Dokumentarfilm | Deutschland 2013 | 122 Minuten

Regie: Volker Koepp

In der Antike bezeichnete man die Region zwischen Weichsel, Wolga, Ostsee und dem Schwarzem Meer als Sarmatien. Der Regisseur Volker Koepp leiht sich den Namen für eine filmische Reise in ein Gebiet, auf dem heute die Länder Moldawien, Weißrussland, Litauen und die Ukraine liegen und das von Krieg, Vertreibung und nationalen Zerrüttungen geprägt ist. Mit großer Offenheit, Geduld und einem Bewusstsein für die Verbindung von Landschaft, Geschichte und Menschen begegnet Koepp seinen Protagonisten und seiner eigenen filmischen Vergangenheit. Zugleich versucht sich der Dokumentarfilm an einer transnationalen Geschichtsschreibung, die jenseits herkömmlicher Heimatbegriffe von einer gemeinsamen „sarmatischen“ Erfahrung berichtet. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
Vinetafilm/RBB
Regie
Volker Koepp
Buch
Volker Koepp
Kamera
Thomas Plenert
Musik
Rainer Böhm
Schnitt
Beatrice Babin
Länge
122 Minuten
Kinostart
20.03.2014
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Die bläulich schimmernden Eisschollen knacken, der Wind pfeift und bringt die Blätter leise zum Rascheln, das Wasser der Memel schwappt ans Ufer und hinterlässt sanft klatschende Geräusche. Wenn „In Sarmatien“ der Natur lauscht, und das passiert wie nebenher, glaubt man einer eigenen Sprache zuzuhören. Die Art, wie Volker Koepp (und sein Kameramann Volker Plenert) auf Landschaft schaut, ihr zuhört, geht über eine Naturbetrachtung weit hinaus: sie zeugt von einem tiefen Bewusstsein für die Verbindung von Landschaft, Geschichte und den Menschen, die dort leben. Auch ihnen lauscht Koepp, „anders“, als man es von den meisten Dokumentarfilmen kennt. Da ist eine Offenheit und ein geduldiges Zuhören, dem nicht schon die nächste Frage im Nacken sitzt. Nicht selten erzählen längere Pausen, abschweifende Blicke oder ein Stocken mehr als das flüssig Gesagte. Für „In Sarmatien“ hat Koepp ein Gebiet bereist, auf dem heute die Länder Moldawien, Weißrussland, Litauen und die Ukraine liegen. Er führt damit ein Projekt fort, das 1972 seinen Anfang nahm, mit dem kurzen Dokumentarfilm „Grüße aus Sarmatien für den Dichter Johannes Bobrowski“ (1973). Das Wasser gibt den Kurs vor. Koepp folgt dem Verlauf der großen Flüsse Weichsel und Wolga bis an das Kurische Haff an der Ostsee. Der Titel hallt wie aus einer anderen Zeit. Tatsächlich stammt der altertümlich klingende Name aus der Antike; die Region, die er bezeichnet, gehört der Historie an. Dass Koepp sich auf den Begriff „Sarmation“ bezieht, könnte leicht etwas Rückwärtsgewandtes haben, dient aber eher als ein Vehikel für eine transnationale – und ganz und gar nicht „tote“ – Form der Historiografie. Dass Geschichte ein andauernder, beweglicher und keinesfalls abgeschlossener Prozess ist, macht der Film und mit ihm seine Protagonisten immer wieder deutlich. Eine „Mastererzählung“ mag sich in keinem Moment formieren, stattdessen reihen sich Gedanken, Erinnerungen, Abschweifungen, bekennerhaft Formuliertes und nach Worten Suchendes unvollständig aneinander. Die Bewohner (und temporären Rückkehrer) erzählen vom Holocaust, von Stalins gewaltsamen Umstrukturierungen, von Armut und Auswanderung, aber auch davon, in der Kindheit mit dem Schiff über die Memel gefahren zu sein, weil auf der russischen Seite das Eis besser schmeckte als auf der litauischen. Die Folgen der politischen Katastrophen wirken in die Gegenwart hinein: zerrüttete Identitäten, verlassene Ortschaften, versprengte Familien, Trostlosigkeit und immer wieder die Frage nach Zugehörigkeiten. Für viele heißt die Antwort Europa. Wiederholt nimmt Koepp auch Bezug auf seine eigene filmische Vergangenheit, die in Ausschnitten auftaucht und miterzählt, Arbeiten wie „Kalte Heimat“ (fd 31 619) und „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ (fd 33 698), ein Film über die beiden letzten, noch im alten Czernowitz geborenen Juden, die mittlerweile gestorben sind. Czernowitz ist in Koepps Werk ein wiederkehrendes Motiv: mit ihrer ehemals multikulturellen Bevölkerung aus Juden, Deutschen, Rumänen, Ukrainern und Polen führte die Stadt geradezu modellhaft vor, wie multikulturelles Zusammenleben funktionieren kann, bevor dies ins Getriebe der Vertreibungs- und Vernichtungsgeschichte geriet. Auch Protagonisten aus früheren Arbeiten tauchen auf: Tanja, die in „Dieses Jahr in Czernowitz“ (fd 36 524) noch über die unerschütterliche Verbundenheit zu ihrem Heimatort gesprochen hatte, jetzt aber in Jena lebt, oder Ana aus der moldawischen Stadt Kischinau. 2002 begleitete sie Koepp als Übersetzerin, inzwischen arbeitet sie als Filmemacherin. Die in Kaliningrad lebende Elena hat Mitte der 1990er-Jahre „Kalte Heimat“ in einem Kino in Halle gesehen und dabei verschämt geweint; als sie davon erzählt, steigt ihr das Wasser erneut in die Augen. Es kommt aber auch zu flüchtigeren Begegnungen: drei Jungs auf einem mit Weintrauben beladenen Pferdewagen; sie strahlen übers ganze Gesicht, während sie von der Perspektivlosigkeit in Moldawien sprechen. Wie bei den anderen Gesprächen kommt auch hier die Rede bald aufs Wegbrechen der Strukturen; die jungen Leute gehen fort, ins Ausland, um Arbeit zu finden. In vielen Erzählungen klingt eine vage konturierte Sehnsucht durch, ein un-nationaler Begriff von Heimat, der nichts zu tun hat mit territorialen und kulturellen Grenzen, eher mit einer gemeinsamen gelebten Erfahrung.
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