Das andere Rom - Sacro GRA

Dokumentarfilm | Italien/Frankreich 2013 | 91 Minuten

Regie: Gianfranco Rosi

Über einen Zeitraum von zwei Jahren beobachtete der Dokumentarfilm die Stadtautobahn „Grande Raccordo Anulare“, die sich wie ein Befestigungsgürtel um Rom windet, sowie die Menschen in den Vorstädten der Metropole. Dabei stellt er unterschiedlichste soziale Sphären vor und verdichtet sie durch eine prägnante Montage sowie eine komplexe Bildsprache zu einem poetischen Zeitbild. Unterschwellig klingt dabei das Bedauern über die Auflösung traditioneller Verbände an, über soziale Ungerechtigkeit und den Verlust gesellschaftlicher Visionen an. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SACRO GRA
Produktionsland
Italien/Frankreich
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
Doclab/La Femme Endormie
Regie
Gianfranco Rosi
Buch
Gianfranco Rosi · Nicolò Bassetti
Kamera
Gianfranco Rosi
Schnitt
Jacopo Quadri
Länge
91 Minuten
Kinostart
26.03.2015
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Entlang des römischen Autobahnrings

Diskussion
Die Autobahn „Grande Raccordo Anulare“ legt sich um Rom wie eine Befestigungsanlage. Sie trennt die ewige Stadt von ihrer Peripherie. Gleich einem grauen Wurm windet sich das Asphaltband durch eine abwechslungsreiche, ästhetisch ansprechende Landschaft. Dann durchquert es die Vororte der Metropole, streift versprengte Häuser und vornehme Anwesen oder krümmt sich vor am Horizont auftürmenden Wohnmaschinen. Nimmt man jedoch eine Ausfahrt und besieht sich die Randbezirke genauer, so bröckelt die charmante Anmutung. Fast verwaist liegt der offene Hof eines mehrstöckigen Wohnhauses, flatternde Papierchen und sonstiger Unrat stören den Blick auf grüne Inseln im Grau. Das lädt nicht zum Verweilen ein. Doch zumeist müssen sich die Bewohner dieser Bezirke ohnehin einem schweren Tagewerk nachgehen. Gianfranco Rosi hat in seiner 2013 mit dem „Goldenen Löwen“ prämierten Dokumentarfilm das Leben in der Peripherie geradezu poetisch durchdrungen. Sie bildet den Teil eines größeren Projekts, das durch den Mitautor und Landschaftsmaler Nicolò Bassetti angestoßen und auch in einer Buchpublikation aufbereitet wurde. Damals begann Bassetti, den Landstrich längs der Stadtautobahn zu Fuß zu erkunden. Zweieinhalb Jahre lang war mit den verschiedensten Verkehrsmitteln unterwegs, wobei diese Expeditionen viele Überlegungen auslösten und schließlich die Form eines sozialen Denkbildes annahmen. Die Straße wurde zu einer Trope des modernen städtischen Lebens, der Auswirkungen neoliberalen Gedankenguts, während der Bau der GRA noch dem Geist des europäischen Wirtschaftens nach dem Zweiten Weltkrieg verpflichtet war, Arbeit und Wohlstand für alle schaffen sollte. Rosi ließ sich von der Passion für dieses „Ready Made“ und von den Ideen Bassettis anstecken. Und spürte die für den Film passenden Schauplätze und Protagonisten auf. So gewähren etwa ein Aalfischer, ein Sanitäter, ein Adliger oder zwei Prostituierte Einblicke in ihr Leben. Rosi gewinnt der „heiligen“ Straße, der Landschaft und dem Alltag der Menschen malerische Momente ab. Er arbeitet mit Unschärfen, Filtern und Kontrasten, mit Geräuschen und vor allem mit dem Licht, um die Schönheit der wechselnden Tages- und Jahreszeiten aufzunehmen. Dem Lärm der technischen Zivilisation setzt er den Gesang der Natur entgegen. Durch eine einfallsreiche Montage verdichtet der Film die Gespräche der Vorstadtbewohner; prägnant erschließt er die Charaktere und deren Ansichten, stellt Zusammenhänge her. Durch diese vielfältigen Eindrücke und Stimmungen wird anschaulich, wie in diesen Bezirken gedacht und gehandelt wird, wie sich italienische Traditionen auflösen und der soziale Zusammenhalt, die familiäre Verbundenheit schwindet. Auf sich selbst gestellt, fühlen sich viele der Vorstädter einsam, weil sie kaum noch ihre Nachbarn kennen. Diese „moderne Nomaden“ haben sich auf engstem Raum häuslich eingerichtet, ihr Alltag birgt wenig Abwechslung. In einem Palmenhain stößt der Filmemacher auf einen Biologen, der die Bäume vor gefräßigen Parasiten schützen will. in seinen Reden über die schmatzenden, Orgien feiernden Würmer kann man durchaus eine Philippika gegen die Profiteure des Freihandels heraushören, über die mächtigen Familien, die in Gestalt des Fürsten Filippo Pellegrini im Film ebenfalls präsent sind. Andere flüchten sich in die Erinnerung an Zeiten des Stilwillens und des Raffinements oder ergeben sich gleich ganz dem unveränderlichen Schicksal. Rosis Zeitbild über den Fatalismus in den Vorstädten passt bestens zu Paolo Sorrentinos „La grande bellezza“, der die Selbstaufgabe der römichen Intellektuellen beklagte die sich nur noch von Spektakel und Selbstinszenierungen nähren. In der ewigen Stadt ist eine lebendige, debattierfreudige Kultur offensichtlich versiegt.
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