Baal (1970)

Drama | Deutschland 1970 | 88 Minuten

Regie: Volker Schlöndorff

Fürs Fernsehen entstandene Verfilmung von Bertolt Brechts Theaterstück durch Volker Schlöndorff: In 24 thematisch eingegrenzten Sequenzen entfaltet sich kapitelweise die Geschichte des jungen Baal als amoralischer Menschenschinder und Unhold, der die Menschen demütigt, von der Gesellschaft ausgeschlossen wird und saufend, hurend und dichtend durch die Lande zieht. Die Handlung entspinnt sich in realen Dekors und mit Darstellern, die in Habitus und Kostüm der unmittelbaren Gegenwart des Jahres 1969 entstammen. Rainer Werner Fassbinder spielt und lebt Baal in einer reizvollen filmischen Wiederentdeckung zwischen Provokation und Parodie auf das Formenrepertoire romantischer Jahrhundertwende-Fotografie. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1970
Produktionsfirma
Hallelujah-Film/HR/BR
Regie
Volker Schlöndorff
Buch
Volker Schlöndorff
Kamera
Dietrich Lohmann
Musik
Klaus Doldinger
Schnitt
Peter Ettengruber
Darsteller
Rainer Werner Fassbinder (Baal) · Sigi Graue (Ekart) · Margarethe von Trotta (Sophie) · Günther Neutze (Nech) · Miriam Spoerri (Emilie)
Länge
88 Minuten
Kinostart
20.03.2014
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung | Tragikomödie
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. ein längeres Interview mit Volker Schlöndorf zum Film (35 Min.).

Verleih DVD
Zweitausendeins (16:9, FF, Mono dt.)
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Diskussion
In einem Kommentar zu seinem Stück „Baal“ schrieb Bertolt Brecht: „Dieses Theaterstück behandelt die gewöhnliche Geschichte eines Mannes, der in einer Branntweinschenke einen Hymnus auf den Sommer singt, ohne sich die Zu-schauer ausgesucht zu haben – einschließlich der Folgen des Sommers, des Branntweins und des Gesangs. (…) Er entstammt der Zeit, die dieses Stück aufführen wird.“ Besonders der letzte Satz muss es Volker Schlöndorff angetan haben. Die angelsächsischen Germanisten und Schlöndorff-Exegeten Hans-Bernhard Moeller und George Lellis jedenfalls interpretierten seinen „Baal“ als „Brecht for Hippies“. Schlöndorff wiederum notiert in seiner Autobiografie „Licht, Schatten und Bewegung“: „Es entstand ein sehr wundersames Bild dieses Münchener Frühjahrs 1969, das, zugegeben, mehr mit uns als mit Brecht zu tun hatte. Der Film wurde – heute unvorstellbar – zur Primetime im ersten Programm gesendet und löste einen Sturm der Entrüstung aus.“ Nach drei Fernsehausstrahlungen (eine in der ARD, zwei in den Dritten Programmen von HR und BR) wurde „Baal“ 1970 durch die Brecht-Erben mit einem Aufführungsverbot belegt. Dieser „Baal“ sei nach Helene Weigels Verdikt „schauderhaft, unhistorisch und anarchistisch, kurzum zu wenig brechtisch“. 2003 erklärte Schlöndorf im Rahmen der Brecht-Tage, warum er manchmal insistiere, den Film zu zeigen: „Es ist der erste Filmauftritt von Rainer Werner Fassbinder, der für eine ganze Generation deutscher, zumindest westdeutscher Filmemacher den Status hat, den Brecht für Theaterleute hat, um es verkürzt zu sagen.“ Fassbinder spielt/ist Baal. Das wusste man oder konnte es nachlesen. Wie das aber aussah, wie der Film überhaupt aussah, das vermochte niemand zu beurteilen. „Baal“ wurde zu einem ungesehenen Klassiker, einem bekannten unbekannten Titel in den Filmografien vieler Schauspieler und anderer Beteiligter, darunter Margarethe von Trotta, Hanna Schygulla, Irm Hermann, Dietrich Lohmann oder Klaus Doldinger. Für Schlöndorff ist der Film ein Kuriosum: „Es ist kein Film, und es ist auch keine Fernsehsendung.“ Es war das erste Projekt seiner gemeinsam mit Peter Fleischmann gegründeten Produktionsfirma Hallelujah-Film. In der Präambel des Drehbuchs schrieb er: „Er ist also weder so inszeniert und gespielt, dass es auch auf einer Bühne stattfinden könnte (wie das beim üblichen Fernsehspiel der Fall ist) noch so gefilmt, dass es Kinoleinwand und -saal füllen könnte, sondern höchstens ein Wohnzimmer.“ Im Rückblick erkennt man, dass der Film seine Eigenart wesentlich daraus bezieht, mutwillig auf die Lücken zwischen mehreren Stühlen zu zielen – erwartbare Lücken wie jene zwischen Film, Bühne und Fernsehen, aber auch überraschende wie die zwischen der Übertragung von Sport- und Bühnenereignissen. Schlöndorff: „Im westdeutschen Fernsehen gab es in den 1960er-Jahren die Gewohnheit, Theateraufführungen mit drei Kameras auf der Bühne abzufilmen. Wir nannten das Ampex-Konserven – etwas sehr Statisches und Verstaubtes, während gleichzeitig auf dem Fußballplatz die Kameras wie die rasenden Reporter fungierten. (…) Ich wollte diese Sportplatz-Technik einsetzen, um ein Theaterstück aufzunehmen, einfach um den gewohnten Rahmen zu sprengen. Es stellte sich aber heraus, dass das notwendige Equipment (…) für drei Wochen ein Vermögen gekostet hätte. Darum blieb mir nichts anderes übrig, als auf den Ü-Wagen zu verzichten und das Ganze mit der 16mm-Kamera aus der Hand zu drehen.“ „Baal“ besteht aus 24 jeweils thematisch eingegrenzten Sequenzen, die sich wie Kapitel aneinanderreihen und in Stationen Baals Geschichte erzählen. Die Handlung entspinnt sich in realen Dekors und mit Darstellern, die in Habitus und Kostüm der unmittelbaren Gegenwart des Jahres 1969 entstammen. Baal ist ein amoralisches Wesen, ein infames Etwas, ein veritabler Menschenschinder, man könnte auch sagen: ein Unhold. In der Eingangsszene brüskiert Baal die feine Gesellschaft, die ihm huldigen will. Die Feier wird vom Verleger Mech (Günther Neutze) ausgerichtet, der den jungen Dichter groß herausbringen will. Emilie (Miriam Spoerri), die Frau des Verlegers, wird Baals Geliebte. In einer Souterrain-Wirtschaft rezitiert Baal aus seiner Lyrik und macht sich über Emilies Liebe lustig, als ein Mann namens Eckart (Siegfried Graue) auf ihn zutritt und ihn auffordert, ihm zu folgen. Baal wehrt ab, dazu sei es noch zu früh, und es gehe auch anders. Später erwacht Baal in seiner Dachkammer mit Johanna (Irmgard Paulis), die sich nach Baals Demütigungen das Leben nehmen wird. Baal fühlt sich frei von jeglichen moralischen Zwängen, genießt alles, was die Welt ihm bietet, auch die Schauspielerin Sophie (Margarethe von Trotta), die er sich geholt hat, damit sie ihn eine Zeitlang liebhabe. Er verschlingt die Menschen, die ihm begegnen, und speit sie wieder aus, wenn sie uninteressant geworden sind. In einem Nachtcafé, in dem er auftritt, nennt ihn der Besitzer „eine feine Seele in einem Fettkloß“. Von der Gesellschaft ausgeschlossen und missachtet, zieht er durch die Lande, säuft, hurt und dichtet. Nur mit Mühe entgeht er der Rache von Holzfällern, die er um den Schnaps ihres soeben verunglückten Kollegen betrogen hat. Von da an zieht Baal mit Eckart weiter, der ihn liebt, sich genauso großsprecherisch zu gebärden versucht und ebenfalls dichtet. Schließlich ersticht Baal seinen Freund wegen Sophie, die sich mit Eckart angefreundet hat, und flüchtet über die Autobahn in die Nacht. In einer Waldhütte krepiert er. Den Szenen ist der „Choral vom großen Baal“ vorangestellt (als Blues arrangiert von Klaus Doldinger, vorgetragen als Sprechgesang von Fassbinder – ein weiterer Stein des Anstoßes für Helene Weigel), worin ein programmatischer Überblick über das Leben des Protagonisten gegeben wird, vom weißen Mutterschoße, in dem er geborgen aufwächst, bis zur Rückkehr in den Urschoß der Welt, der ihn hervorgebracht hat. Während dieses Chorals schweift Baal ziellos durch Felder, während die Kamera von Dietrich Lohmann ihn scheinbar beiläufig umschwirrt und ihrerseits wiederholt in den Himmel abschweift. Häufig arbeitete die Inszenierung mit einer „Fettblende“, einer vor das Objektiv geschobenen, an den Rändern eingefetteten Glasscheibe, die übergangslos einen Unschärfebereich schafft. Dadurch ergibt sich eine Konzentration auf das Bildzentrum, die häufig von der Titelfigur eingenommen wird, aber auch eine Parodie auf das Formenrepertoire romantischer Jahrhundertwende-Fotografie. Es ist ein kleiner technischer Kniff, um im Verlauf des Films die Nicht-Identität zwischen der Entstehungszeit des Stoffs und dem Zeitgenössischen des Geschehens bewusst zu halten. Oder, wie es in der Drehbuch-Präambel zu „Baal“ heißt: „Das Stück wird, wie Brecht sagt, in der Zeit spielen, die es aufführt – also 1969. (…) Keinesfalls wird versucht, eine ‚expressionistische Note‘ oder ‚Zwanziger-Jahre-Atmosphäre‘ durch Dekoration oder Kostüm herzustellen.“ Rückblickend muss man „Baal“ tatsächlich als einen zentralen Baustein in Fassbinders eigener künstlerischer Genese ansehen. Schlöndorff schrieb in seiner Autobiografie: „An einem der letzten Drehtage von ‚Baal‘ heiratete Rainer, zur Überraschung seiner ganzen Entourage, die Schauspielerin Ingrid Caven. Im Restaurant Hongkong (…) fand eine chaotische Feier statt, Ingrid gefiel sich als Braut, während Rainer seinem neuen Liebhaber, Günther Kaufmann, einen nagelneuen amerikanischen Sportwagen kaufte – von der Gage für das Team, die mein Produktionsleiter ihm übergeben hatte.“
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