Lifelong - Hayatboyu

Drama | Türkei/Deutschland/Niederlande 2013 | 102 Minuten

Regie: Asli Özge

Nachdem eine erfolgreiche Istanbuler Künstlerin heimlich ein Telefongespräch ihres Ehemanns mitgehört hat, ist sie davon überzeugt, dass er sie betrügt. Obwohl der Mann bald ahnt, dass seine Frau ihn verdächtigt, schweigen sich beide beharrlich darüber aus. Großartig gespieltes und kunstvoll inszeniertes Ehedrama mit stilistischen Anleihen bei der „Berliner Schule“. Die sinnbildlich zwingende Ästhetik geht freilich mitunter auf Kosten dramaturgischer Dynamik und Authentizität. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
HAYATBOYU
Produktionsland
Türkei/Deutschland/Niederlande
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
buluftilm/Sodamedya/Razor Filmprod./Augustusfilm/Kaliber Film/The Post Republic
Regie
Asli Özge
Buch
Asli Özge
Kamera
Emre Erkmen
Schnitt
Asli Özge · Natali Barrey
Darsteller
Defne Halman (Ela) · Hakan Çimenser (Can) · Gizem Akman (Nil) · Onur Dikmen (Tan) · Cüneyt Cebenoyan (Ali)
Länge
102 Minuten
Kinostart
21.05.2014
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Es ist ein Anruf, der alles verändern könnte. In der dramaturgischen Schlüsselszene von „Lifelong – Hayatboyu“ belauscht die renommierte Istanbuler Künstlerin Ela ihren Mann, den nicht minder angesehenen Architekten Can, bei einem Telefongespräch. Am Nebenapparat hört sie heimlich mit. Ihr niedergeschlagener Gesichtsausdruck spricht Bände. Es ist die alte Geschichte eines Paares in mittleren Jahren, das beruflich erfolgreich zur kulturellen Elite zählt; doch die einstigen Gefühle sind zur Fassade gefroren, die Ehe steckt in der Krise, der Mann betrügt seine Frau. In dem Ehedrama von Asli Özge ist das alles ein offenes Geheimnis. Aber es bleibt unausgesprochen. Dieses Schweigen charakterisiert den Film in mehrfacher Hinsicht. Es ist das nahezu allgegenwärtige Symptom einer erkalteten Liebesbeziehung. Die Endstufe gescheiterter, weil fehlender zwischenmenschlicher Kommunikation. Viel zu sagen haben sich Ela und Can nicht mehr. Die Eingangszene zeigt die beiden beim Sex, der früher vielleicht mal ein Liebesakt war. Mittlerweile ist daraus ein mechanischer Vorgang geworden, bei dem sie aneinander vorbeischauen und -keuchen. Hinterher steht Can wortlos auf; Ela bleibt ebenso liegen, schon da mit jenem resignierten Blick, der sie den gesamten Film über begleiten wird. Das Schweigen ist zugleich aber auch das zentrale filmische Symbol der emotionalen Entfremdung der Eheleute, deren erwachsene Tochter in Ankara studiert. Die beredte Wortlosigkeit wird in langen, trägen Einstellungen, in denen nicht gesprochen wird, zum Stilmittel: leere Blicke, zwei Menschen, die nebeneinander aus einem Fenster oder auf einen Monitor schauen. Als Gegengewicht zur audiovisuellen Stille, die sich auch in der ruhigen Montage niederschlägt, sind gelegentlich recht plakative, „laute“ Sinnbilder justiert. Das indirekte Erzählen, das auf einer beobachtenden, psychologisch-analytischen oder eben metaphorischen Ebene stattfindet, macht aus einem eigentlich trivialen Alltagsthema ein poetisches Sujet. Was und mit wem Can telefoniert hat, bleibt den ganzen Film über im Dunkeln. Auf die Details, den puren Plot kommt es gar nicht an. Es geschieht ja auch kaum etwas. Als Can und Ela gemeinsam ihre Tochter besuchen, erleidet Ela einen Schwächeanfall. Damit hat die „Action“ schon ihren Höhepunkt erreicht. Der Film thematisiert gerade das, was nicht passiert, was unausgesprochen bleibt. Das Aneinandervorbeileben, den Stillstand. Ähnlich wie einst bei Fontane interessiert sich Özges „poetischer Realismus“ weniger für das „Was“ als für das „Wie“. Die formalen Mittel, mit denen die Regisseurin dieses „Wie“ ausdrückt, sind allerdings andere. Die psychologische Dichte, die düsteren, belauernden Blicke, die beklemmende Atmosphäre: all das erinnert an Ingmar Bergmans abgrundtiefes „Schweigen“, nicht nur im gleichnamigen Drama (fd 12 486), sondern weit naherliegender in „Szenen einer Ehe“ (fd 19 216). Intensives Schauspielkino, das Defne Halman und Hakan Çimenser in ihren ersten Kinohauptrollen herausragend meistern. Wie selbstverständlich entfalten sie ihre Figuren im symbolschweren Dialogvakuum zu glaubhaften Charakteren. Anders als Bergman schaut Özge ihnen dabei jedoch nur aus der Ferne zu. Aus der programmatischen Distanz geometrisch streng kadrierter, oft durch Fenster(rahmen) hindurch fotografierter Tableaus, die den sterilen, unterkühlten Eindruck der modernen, gläsern-stählernen Architektur noch steigern. Es sind visuell kunstvolle, zwingende Filmbilder, denen allerdings die soziale Wirklichkeit abhanden zu kommen droht. Der hermetische Raum, in dem sich Can und Ela bewegen, lässt sich nicht mehr nur als elitär-bürgerliches Paralleluniversum deuten. Er symbolisiert zugleich das innere Gefängnis, in dem sich das Paar, so ließe sich der Filmtitel deuten, zu lebenslänglicher Haft verurteilt hat. Der reale Schauplatz Istanbul, die multikulturelle, lärmende Millionenstadt, verschwindet hinter diesem konzeptionellen Setting. Statt in Istanbul könnte der Film genauso gut in einer westlichen Metropole spielen. Etwa in Berlin, wo Özge seit 14 Jahren lebt. Deshalb könnte man „Lifelong – Hayatboyu“ auch der „Berliner Schule“ zurechnen. Wie so viele Filme dieser Stilrichtung wirft auch „Lifelong – Hayatboyu“ die Frage auf, wie sich vom Erstarren erzählen lässt, ohne dabei selbst zu erstarren. Die Antwort, die Özges Film darauf gibt, überzeugt meistens, wenn auch nicht restlos.
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