Von der Beraubung der Zeit

Dokumentarfilm | Deutschland 2014 | 82 Minuten

Regie: Daniel Poštrak

Drei Männer, die wegen schwerer Verbrechen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, beschreiben ihren Alltag im Gefängnis, der von Monotonie, Illusionslosigkeit und dem Gefühl geprägt ist, aus der Zeit gefallen zu sein. Ganz auf die Erzählungen der Männer in ihren Zellen gestützt, zeichnet der Dokumentarfilm mit einfachen, aber höchst wirkungsvollen Mitteln ein eindrückliches Bild von den Lebensbedingungen hinter Gittern. In den Betrachtungen der bemerkenswert reflektierten Gefangenen werden auch die Mängel des deutschen Strafvollzugssystems spürbar, ohne dass der Film die Institution Gefängnis als solche anklagen oder sich anmaßen würde, eine alternative Lösung vorzutragen. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Field Recordings Filmprod.
Regie
Daniel Poštrak · Jörn Neumann
Buch
Daniel Poštrak · Jörn Neumann
Kamera
Jörn Neumann
Schnitt
Oliver Schwabe · Daniel Poštrak
Länge
82 Minuten
Kinostart
03.07.2014
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb

Diskussion
Von außen betrachtet, scheint die Lebenssituation in einem Gefängnis übersichtlich und berechenbar zu sein. In Wirklichkeit aber kann man das Dasein hinter Gittern wohl kaum nachvollziehen. Was paradoxerweise an den spärlichen Ereignissen und der stumpfen Wiederholung im Gefängnisalltag liegt. Einer der hier interviewten Insassen berichtet, dass in deutschen Vollzugsanstalten sogar die Zellenstühle genormt sind. Eine Verlegung bringt also höchstens minimale Abwechslung. Wie diese erbarmungslose Mühle des Immergleichen dem Zeiterleben der Betroffenen den Stempel aufdrückt, liegt außerhalb der Vorstellungskraft. Daniel Poštrak und Jörn Neumann haben drei Männer in verschiedenen deutschen Gefängnissen besucht. „Von der Beraubung der Zeit“ ist ein treffender Titel für ihren mit einfachen und höchst wirkungsvollen Mitteln gemachten Dokumentarfilm. Wie die Zeit im Knast verstreicht, hängt dabei sehr von den Perspektiven der Inhaftierten abhängig. Samuel Conley hat offenbar „nur“ noch zwei Jahre abzusitzen und streicht die Tage auf den Kalendern durch, die er an die Zellenwand geklebt hat – was durchaus an klassische Gefängniswitze erinnert. Für die beiden anderen, Kenny Berger und Helmut Poschner, liegt der Moment der Freiheit in weiterer Ferne. Man begreift, warum sie jeden Tag mit gemischten Gefühlen betrachten. „Ich komme meinem Todestag näher“, sagt Poschner. Filmgeschichtlich betrachtet, sind Gefängnisfilme, die kein festumrissenes Genre bilden, nahezu ausnahmslos Spielfilme (Werner Herzogs Todeskandidaten-Doku „Death Row“ von 2011 ist eine jüngere Ausnahme): John Frankenheimers „Der Gefangene von Alcatraz“ (fd 11 461), Alan Parkers „Midnight Express“ (fd 20 936) oder Jacques Audiards „Ein Prophet“ (fd 39 774) halten das Publikum bei der Stange, indem sie die Gefängnisrealität zuspitzen und Ausnahmecharaktere skizzieren. Von der unermesslichen Langeweile hinter Gittern erzählen sie kaum etwas. Aufregende Ereignisse oder Ausbrüche, die Standardsituationen in Knast-Spielfilmen, finden vornehmlich in den Träumen der Inhaftierten statt – von denen gleich zu Beginn berichtet wird. „Von der Beraubung der Zeit“ stützt sich fast ausschließlich auf die in den Einzelzellen gefilmten Erzählungen der Männer. Die Protagonisten kennen sich nicht, aber ihre Berichte weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Gerahmt wird der Film von immer wiederkehrenden Bildern einer Baustelle. Zunächst ist nur eine frisch ausgehobene Baugrube zu sehen, bald aber ahnt man den Zweck des Gebäudes, das am Ende fast bezugsfertig ist: Ein neues Gefängnis wird errichtet, noch moderner, noch sicherer als die Gefängnisse, in denen Kenny, Samuel und Helmut einsitzen. An „Knackis“ wird kein Mangel sein. Kenny, der älteste des Trios, berichtet von seinem Befremden, das ihn, der seit 1979 einsitzt, überkommt, wenn er Mithäftlinge kennenlernt, die damals noch nicht geboren waren. Schlagartig werde ihm bei solchen Gelegenheiten der auch für ihn unfassliche Haftzeitraum bewusst. Die Männer sitzen nicht unschuldig im Gefängnis. Jeder von ihnen hat den Tod eines Menschen auf dem Gewissen, jeder findet glaubwürdige Worte der Reue. Der Film weckt Zweifel daran, ob es so etwas wie eine gerechte Strafe geben kann. „Wer will festlegen, wie viele Jahre ich brauche?“, fragt Kenny, und Helmut kommentiert überspitzt: „Lange Haftzeit – großer Erfolg? Wer lebenslänglich sitzt, wird am Ende Mahatma Gandhi?“ Es war eine kluge Entscheidung von Poštrak und Neumann, sich nicht auf ein Einzelschicksal zu konzentrieren, sondern drei Stimmen hörbar zu machen, die sich ergänzen und widersprechen. Unterm Strich bestärkt der Film den Eindruck, dass der Strafvollzug eine Notlösung ist, ein Provisorium, das bisher alternativlos, aber im Detail zumindest verbesserungsfähig ist. Trotz Gefängnispfarrer und -psychologen, ob mit karierten Gardinen oder ohne, mit oder ohne Zellenfernseher und der Erlaubnis, sich Porno-DVDs bestellen zu dürfen: Was der jahrelange Freiheitsentzug mit einem Menschen macht, klingt nirgendwo beklemmender an als in den Zeilen von Kenny Berger über den Zerfall der Zeit: „Weg mit diesem Tag, mit dieser Woche, Müll zu Müll. Ich atme tief und hörbar. Ich, das störende Insekt, vom Baum der Allgemeinheit abgefallen. Eingefasst in Bernstein.“
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