Drama | Deutschland 2013 | 94 Minuten

Regie: Rick Ostermann

Ostpreußen im Sommer 1946: Deutsche Kinder, die ihre Eltern verloren haben, fliehen vor der Roten Armee. Auf ihrem Weg ins Nirgendwo sind sie Hunger und Not, Gewalt und Einsamkeit ausgesetzt, verhalten sich gegenüber Gleichaltrigen aber auch solidarisch und hilfsbereit. Artifiziell ausgefeiltes Porträt einer Generation, das den Gegensatz zwischen malerischer Natur und existenzieller Bedrohung nutzt und zu einer Parabel über das Leben als Opfergang und ewigen Kampf verdichtet. Da die konkreten historischen Umstände nicht benannt werden, mündet der Film letztlich aber in eine Verklärung der Deutschen als unschuldige Opfer. Damit trägt er nur bedingt zur Erhellung der Vergangenheit bei. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
Zum Goldenen Lamm Filmprod.
Regie
Rick Ostermann
Buch
Rick Ostermann
Kamera
Leah Striker
Musik
Christoph M. Kaiser · Julian Maas
Schnitt
Stefan Blau · Antje Laas
Darsteller
Levin Liam (Hans) · Helena Phil (Christel) · Vivien Ciskowska (Asta) · Patrick Lorenczat (Fritzchen) · Willow Voges-Fernandes (Karl)
Länge
94 Minuten
Kinostart
28.08.2014
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
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Diskussion
Sommer 1946 in Ostpreußen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Rote Armee die östlichste Provinz des ehemaligen Deutschen Reiches besetzt, viele ihrer Bewohner sind geflohen, Familien zerrissen, die Männer meist tot oder in Gefangenschaft, die Frauen mit den Kindern unterwegs ins Nirgendwo. Am Abend hören der 14-jährige Hans und sein neunjähriger Bruder Fritz ihre im Sterben liegende Mutter noch sagen, dass sie über die Memel, nach Osten, zu einer litauischen Bauernfamilie gehen sollen, die werde für sie sorgen. Hans und Fritz müssen ihre Namen wiederholen; die Mutter beschwört sie, ihre Herkunft nicht zu vergessen. Ein Medaillon mit den Fotos der Eltern wird zur letzten Reliquie aus glücklicheren Tagen. Am anderen Morgen ist die Frau tot; die Söhne machen sich allein auf den Weg. Sie verlieren sich und finden sich am Ende wieder, doch der Film bleibt weitgehend bei Hans, begleitet ihn über eine lange Wegstrecke, die von Hunger und Not, Gewalt und Einsamkeit, aber auch von der Solidarität zwischen ihm und anderen elternlos herumstreunenden Kindern geprägt ist. „Wolfskinder“ wurden diese einst genannt; das Drehbuch basiert auf ihren lange verdrängten Erinnerungen, skizziert ein fast vergessenes Kapitel der deutsch-europäischen Nachkriegsgeschichte. Wir sehen einen strahlenden Sommer, die Natur in voller Pracht, satte Wiesen, reifende Felder, meist in malerischen Totalen, eine trügerische Schönheit (Kamera: Leah Striker). Im Gegensatz dazu Nahaufnahmen der eindrucksvoll agierenden Kinder, auf deren Gesichtern sich der Schmutz eingegraben hat, stets auf dem Sprung und auf der Suche nach Essbarem. Hans stiehlt ein russisches Pferd, Fritz erschießt es und schneidet ein Stück Fleisch aus den Rippen. Frösche werden verspeist, und Vögel, roh, für Ekel ist kein Platz in diesem Leben. Der Wald, durch den die Kinder ziehen, erscheint mal als Refugium, mal als Gefängnis; in den Sümpfen lauern Gefahren, und auch die kleinen Gehöfte bieten selten Schutz: Sofern Bauern oder Fischer bereit sind, den Kindern zu helfen, dann jeweils nur einem Einzigen und nur weil die Jungen ihnen nützen, weil sie bei der Arbeit fest zupacken können. Geredet wird den ganzen Film über fast nichts, die Tonspur besteht zum überwiegenden Teil aus Naturgeräuschen, auch Musik ist sparsam eingesetzt, kein penetranter Klangteppich wie sonst oft in Filmen zur deutschen Geschichte. „Wolfskinder“, das Langfilmdebüt des 1978 geborenen Rick Ostermann, der vorher unter anderem Regieassistent von Matthias Glasner und Lars Kraume war, ist ein formal sorgsam konzipiertes, artifiziell anspruchsvolles Werk. Zu fragen bleibt allerdings, ob es unseren Blick auf die Untiefen der deutschen Geschichte schärft, ob die eingenommene Erzählperspektive aus dem Blickwinkel eines Wolfskindes tatsächlich dazu beiträgt, aus dem Korsett bloßer Empathie zu befreien und zu einer tieferen Wahrheit vorzustoßen. Anders als etwa Cate Shortlands „Lore“ (fd 41 348) verzichtet „Wolfskinder“ nahezu komplett auf Informationen über Umfeld und Vorgeschichte der abgebildeten Ereignisse. Der Film reduziert sich selbst auf die Beschreibung von täglich neu zu aktivierenden kindlich-menschlichen Überlebensstrategien angesichts existenzieller Bedrohung und Bedrückung. Er will Parabel sein, nicht Tatsachenrekonstruktion. Es geht ihm um nichts Geringeres als den Opfergang, das Leben als Prüfung, als ewigen Kampf. Die konkreten zeithistorischen Umstände, aus denen sich diese Parabel speist, scheinen Ostermann im Grunde genommen gleichgültig. Die Soldaten der Roten Armee werden dabei zum gesichtslos Bösen a priori stilisiert: Dass den Schrecken des Nachkrieges die Schrecken des Krieges vorausgingen, ursächlich von Deutschen begangen, das interessiert hier nicht. Dass die größeren Kinder nicht nur durch Flucht und Vertreibung aus der Bahn geworfen wurden, sondern durch die menschenverachtende NS-Ideologie, spielt für den Film ebenfalls keine Rolle. Er skizziert Folgen, nicht Ursachen. So setzt „Wolfskinder“ fort, was das westdeutsche Kino in den 1950er-Jahren und das gesamtdeutsche seit den späten 1990er-Jahren ausgiebig praktiziert haben: die Verklärung des „einfachen Deutschen“ als quasi unschuldiges Opfer, ein revisionistischer Blick auf eine Geschichte, die wahrlich differenzierter durchleuchtet werden muss, als es sich Filme wie „Wolfskinder“ vornehmen.
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