Dokumentarfilm | Israel/Österreich/Deutschland 2014 | 92 Minuten

Regie: Vanessa Lapa

Dokumentation über den NS-Reichsinnenminister Heinrich Himmler (1900-1945), die sich auf seinen umfangreichen privaten Nachlass stützt. Aus dem Off vorgetragene Ausschnitte aus seinen Briefen und Tagebüchern ergeben eine Art biografischer Erzählung, während die Aussagen auf der Bildebene anfangs assoziativ, während des Holocaust dann zunehmend kontrastiv illustriert werden. Dabei stehen die banalen Briefinhalte im krassen Gegensatz zur Tätigkeit des „Architekten der Endlösung“. Die provozierende Ton-Bild-Montage stellt die Schrecken der Bilder der Biederkeit und Kälte des pflichtbewussten Bürokraten gegenüber, erschöpft sich jedoch bald, weil auf der Ebene der zitierten Dokumente die Vernichtung des europäischen Judentums nicht ernsthaft genug in den Blick kommt. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
DER ANSTÄNDIGE
Produktionsland
Israel/Österreich/Deutschland
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Medienwerkstatt Wien/Realworks
Regie
Vanessa Lapa
Buch
Valessa Lapa · Ori Weisbrod
Kamera
Jeremy Portnoi
Musik
Jonathan Sheffer · Daniel Salomon · Gil Feldman
Schnitt
Sharon Brook · Noam Amit
Länge
92 Minuten
Kinostart
18.09.2014
Fsk
ab 12 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Eine Verhörsituation. Werde sie denn die Wahrheit sagen, und nichts als die Wahrheit, wird auf Englisch gefragt. Eine Frauenstimme antwortet: „Ja, ich schwöre, dass alles, was ich sage, die reine Wahrheit ist!“ Der Name, bitte! „Margarethe Himmler.“ Name des Ehemanns? „Heinrich Himmler.“ Dazu schwarz-weiße Aufnahmen aus einem Internierungslager, im Bild auch: zwei Frauen. Mutter und Tochter Himmler, vielleicht. Als im Mai 1945 Soldaten der US-Armee das Haus der Familie Himmler am Tegernsee besetzte, wurden zahlreiche private Briefe, Dokumente, Tagebücher und Fotos gefunden, die wohl teilweise in Privatbesitz geblieben sind. Seit den 1980er-Jahren tauchen immer wieder Dokumente aus diesem Fundus auf. 2007 kaufte der Vater der Filmemacherin Vanessa Lapa an die 200 Briefe, die jetzt als Material ihrer Dokumentation „Der Anständige“ dienen. Unkommentiert werden Ausschnitte aus Briefen und Tagebüchern der Familie Himmler, gelesen unter anderem von Tobias Moretti, unter einen Fluss von Bildern montiert, der eine Art biografische Erzählung generiert. Dabei ist die visuelle „Präsenz“ der Familie Himmler natürlich abhängig von ihrer Bedeutung: der filmische Diskurs ist mal offener und assoziativer (bis hin zur willkürlichen Auswahl und Anordnung des Materials), mal geschlossener und dichter – je nach Materiallage. Das Resultat ist nur bedingt überraschend. Dass aus Heinrich Himmler mal etwas Bedeutsames werden würde, war dem 1900 in gutbürgerlichen Verhältnissen Geborenen schon früh klar. Seine Biografie scheint geradezu exemplarisch: ohnehin völkisch gesonnen, wird er 1919 Mitglied einer schlagenden Verbindung, hegt früh eine radikale Aversion gegen die Juden und die Demokratie, pflegt sein selbsterklärtes Herrenmenschentum, engagiert sich in der NSDAP und wird ein enger Vertrauter Hitlers, dessen Wahlkampfauftritte er organisiert. Als er 1927 seine Frau Margarethe kennenlernt, bilden prinzipielle ideologischen Übereinstimmungen die Grundlage ihrer Beziehung. Die banalen, ganz alltäglichen Inhalte der Briefwechsel mögen überraschen, wer glaubt, dass einer der wichtigsten Strategen der systematischen Vernichtung des europäischen Judentums auch privat ein sadistisches Monster gewesen sein muss. Das Gegenteil ist der Fall: Himmler geht ganz in der ihm gestellten Aufgabe auf, erledigte, was zu erledigen war, ohne Skrupel und Gewissensbisse. Während der Film die frühen Jahre notwendig assoziativ rekonstruiert, wählt er für den Holocaust gerne die Kontrastmontage: je banaler und alltäglich die Aussagen in den Briefen, desto grausamer die Bilder, die dagegen gestellt werden. Himmler ist selten daheim, stöhnt unter der Menge der Arbeit und sorgt mit Süßigkeiten für das Wohlergehen seiner Familie, ist aber auch ein strenger Erzieher, während seine Gattin ihn bemitleidet und die Tochter hofft, dass sein Einsatz beim Versuch, Ordnung in den Osten zu bringen, einst anerkannt werde: „Alle bekommen Orden und Auszeichnungen, nur Papi nicht. Wenn er nicht wäre, dann wäre alles anders!“ Oder Himmler schreibt: „Ich bin dieser Tage in Auschwitz und Lemberg, bin gespannt, wie es dort mit dem Telefonieren sein wird!“ Dazu dann Bilder von den Massenerschießungen in Polen und der Ukraine. Bis zum Schluss noch beteuernd, daran zu glauben, alles werde sich „zum Guten wenden“, rühmt er sich, den Generälen und Soldaten nach, abgesehen von der einen oder anderen menschliche Schwäche, im Großen und Ganzen immer „anständig“ geblieben zu sein. Natürlich ist das gewählte Verfahren der Ton-Bild-Montage eine Provokation, weil es den Schrecken der Bilder mit der Biederkeit (und auch der kompromisslosen Kälte des pflichtbewussten Biedermanns) konterkariert. Doch wie im Falle von Stefan Ruzowitzky „Das radikal Böse“ (fd 42 153) ist das Ganze schnell redundant, eben gerade weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass das, was hier geschrieben und gesprochen wird, die „reine Wahrheit“ ist. Einmal, 1941, organisiert Himmler für Ehefrau und Tochter einen Besuch im KZ Dachau. Tochter Gudrun ist schwer beeindruckt davon, was sie dort zu sehen bekommt: die disziplinierte Alltagsroutine, die Gärten und die von den Häftlingen produzierte Kunst. Sie notiert in ihr Tagebuch: „Schön ist’s gewesen!“ Ansonsten, so Margarethe Himmler, wurde im Hause Himmler über die Lager nicht gesprochen. Tochter Gudrun, erfährt man im Abspann, ist eine „Identifikationsfigur“ der Organisation „Stille Hilfe“, die verurteilten NS-Tätern juristisch und finanziell unter die Arme greift.
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