Dokumentarfilm | Frankreich/USA/Großbritannien 2014 | 181 Minuten

Regie: Frederick Wiseman

Mehrere Wochen lang beobachtete der Dokumentarist Frederick Wiseman das innere Leben der berühmten National Gallery in London. Dank einer überaus dynamischen Montage werden dabei die Bilder und Exponate, der Museumbetrieb und die Besucher ständig ins Verhältnis gesetzt. Wie in den klugen Führungen der Kuratoren geht es auch in Wisemans mitreißendem Film nicht nur um eine Einfühlung in die gezeigten Werke, sondern auch um deren Anbindung an die Gegenwart. Indem er immer wieder das Zueinander von Bild, Betrachter und Blick ins Zentrum rückt, verdichtet er sich zur klugen Medienreflexion. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
NATIONAL GALLERY
Produktionsland
Frankreich/USA/Großbritannien
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Idéale Audience/Gallery Film
Regie
Frederick Wiseman
Buch
Frederick Wiseman
Kamera
John Davey
Schnitt
Frederick Wiseman
Länge
181 Minuten
Kinostart
01.01.2015
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Kool (16:9, 1.78:1, DD5.1 engl.)
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Mitreißend: Was Kunst mit unserem Leben zu tun hat

Diskussion
Ein Museumsführer kniet mit einer Gruppe von Schulkindern auf dem Parkettboden der Londoner National Gallery. Das Museum sei ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an „amazing stories“, erklärt er emphatisch, dabei wedelt er bekräftigend mit den Armen. Der Mann ist ein guter Geschichtenerzähler, sein Vortrag ist klug aufgebaut, die Kinder schauen interessiert, fast gebannt: auf ihn und auf ein Bild von Bellini, das Gegenstand seines Vortrags ist. Die Betrachter von Frederick Wisemans „National Gallery“ wiederum schauen auf die kindlichen Betrachter und mit ihnen auf das Bellini-Gemälde – eine Art vermitteltes Sehen. Mehrfach im Film blicken die Bilder auch zurück. Im Gegensatz zu Johannes Holzhausen, der in seinem Film über das Kunsthistorische Museum Wien („Das große Museum“, fd 42 618) das Bild stets in Bezug zum Rahmen und zum räumlichen wie institutionellen Kontext zeigt – und damit das Gemälde als Wert, als ein Objekt mit Repräsentationsauftrag –, überschreitet Wiseman seine Begrenzung und holt den Betrachter direkt ins Bild. Durch Close-Ups werden die Bilder vitalisiert: die Nahaufnahmen von Gesichtern im Gegenschnitt mit den Betrachtern etwa konstruieren einen lebhaften Blickdialog, zudem fragmentiert Wiseman sie in verschiedene Teile und lässt sie dadurch „filmisch“ werden: Die Montage wird zum dramaturgischen Mittel, es entstehen Blickachsen und Handlungsabfolgen. Gleich am Anfang steht eine überaus dynamische Montage, die verschiedene Einstellungsgrößen, Genres und Sujets mischt: Totale und Nahaufnahme, Schlachtengemälde, Stillleben, Portraits, religiöse und mythologische Darstellungen, Episches und Intimes, Menschen, Landschaften und Tiere, Gewalt und Sex, in jedem Fall viel nacktes Fleisch. Insgesamt zwölf Wochen hat der große Chronist der Institutionen in der National Gallery schauend und filmend verbracht, 170 Stunden Material wurden schließlich zu rund 3 Stunden zusammengeschnitten. Wisemans 42. Werk ist mehr noch als seine Studien über das Pariser Ballett („La danse“, fd 40 124) und den berühmten Nachtclub Crazy Horse (2011) ein Film über das Geschichtenerzählen und verschiedene Wahrnehmungsweisen. Die Hauptprotagonisten von „National Gallery“ sind ganz eindeutig die Kunst, die Kunstvermittler, Zuhörer und Betrachter. So ausgiebig Wiseman, selbst ein regelmäßiger Museumsbesucher und nach einigen Aussagen „enlightened amateur“, sich auch anderen institutionellen Ebenen widmet – den Restauratoren-Werkstätten, der kuratorischen Arbeit, der Marketingabteilung sowie diversen Begleit- und Bildungsprogrammen wie Aktzeichenkurse oder Konzerte: Immer wieder kehrt er zu dem Verhältnis von Bild, Betrachter und Blick zurück. Besucher blicken auf Bilder, konzentriert, interessiert, zerstreut, gelangweilt. Leute stehen und sitzen vor Bildern, einige davon mit ihrem Skizzenblock, andere schlafen oder schauen auf ihre Mobiltelefone. Dass die ästhetische Erfahrung von Bildern jedoch nicht ausschließlich eine des Schauens ist, zeigt eine schöne Szene, in der blinde Kursteilnehmer eine reliefartige Reproduktion eines Gemäldes ertasten. Einen prominenten Platz im Film nimmt Rubensʼ barockes Gemälde „Samson und Delilah“ ein. Ein massiger nackter Männerkörper hängt schlafend über der noch halb entblößten Frau – „This can happen“, meint die Museumsführerin lakonisch zu der postkoitalen Szene – , während ein Diener Samson das Haar abschneidet und ihn damit seiner Kräfte beraubt. Aus dem Mund der charismatischen Kunstvermittlerin klingt die biblische Geschichte wie eine Spionageerzählung. Überhaupt geht es in den Führungen und Vorträgen nicht nur darum, das Einfühlungsvermögen der Besucher zu wecken, sondern die jahrhundertalten Bilder an die Gegenwart anzubinden. „National Gallery“ ist weit mehr als ein Blick in eine geschichtsträchtige Institution. Am Ende des Films ist man selbst zu einer intensiven Kunstbetrachterin geworden. Und mit den vielfältigen Bezügen von Bild und Film erweist sich „National Gallery“ nicht zuletzt als eine ebenso kluge wie mitreißende Medienreflexion.
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