Das blaue Zimmer (2014)

Drama | Frankreich 2014 | 76 Minuten

Regie: Mathieu Amalric

Ein Familienvater und selbstständiger Vertreter für Maschinen lässt sich auf eine Affäre ein. Eine unbedachte Bemerkung gegenüber seiner ebenfalls verheirateten Geliebten weckt bei ihr falsche Vorstellungen: Wenige Wochen darauf stirbt ihr schwerkranker Mann, und ihr Liebhaber erhält anonyme Nachrichten, die ihm nahezulegen scheinen, sich seiner Frau zu entledigen. Die Verfilmung eines Romans von Georges Simenon ist kein Kriminalfilm, sondern eine mit meisterhafter Kühle inszenierte, verschachtelt erzählte Studie der Auflösung eines scheinbar gesicherten Daseins. Außergewöhnlich stimmig und hervorragend gespielt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA CHAMBRE BLEUE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Alfama Films/Arte France Cinéma
Regie
Mathieu Amalric
Buch
Stéphanie Cléau · Mathieu Amalric
Kamera
Christophe Beaucarne
Musik
Grégoire Hetzel
Schnitt
François Gédigier
Darsteller
Mathieu Amalric (Julien Gahyde) · Léa Drucker (Delphine Gahyde) · Stéphanie Cléau (Esther Despierre) · Laurent Poitrenaux (Untersuchungsrichter) · Serge Bozon (Polizist)
Länge
76 Minuten
Kinostart
02.04.2015
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
Arsenal (FF, DD5.1 frz./dt.)
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Eine Georges-Simenon-Verfilmung von und mit Mathieu Amalric: Ein Mann lässt sich auf eine Affäre ein, die gefährlich eskaliert

Diskussion
Ein schmaler Hotelflur. Ein bescheiden eingerichteter Raum. Autoschlüssel auf einer Kommode. Ein zerwühltes Bett. Ein winziger Blutstropfen, der auf die Laken fällt, nachdem der Mann von seiner Geliebten in die Lippe gebissen wurde. Die ersten Einstellungen des Films rufen Spuren und anscheinend nebensächliche Begleitumstände einer Affäre auf, Augenblicksbilder, die sich ins Gedächtnis der Hauptfigur Julien Gahyde eingebrannt haben. Seit Monaten treffen er und seine Geliebte Esther Despierre in dem Hotelzimmer mit den blauen Wänden und gehen auch in ihrer Nacktheit völlig vertraut miteinander um. Dann stellt Esther an einem frühsommerlichen Nachmittag eine Frage, die Julien unverfänglich vorkommt und die er ohne nachzudenken mit Ja beantwortet. Eine unbedachte Äußerung, die er bitter bereuen wird, und die den Film von den sonnenüberzogenen Anfangsmomenten zu abgedunkelten, kalten Bildern aus Zellen und Gerichtszimmern wechseln lässt, in denen sich Julien als Mordverdächtiger verantworten muss. „Das blaue Zimmer“ handelt im Kern von der Ausführung und Aufdeckung eines Verbrechens. Genau wie die 50 Jahre alte Romanvorlage von Georges Simenon ist jedoch auch Mathieu Amalrics Adaption kein Krimi. Fast durchgängig nimmt Amalric in seiner fünften Spielfilmregie die Perspektive von Julien ein, der die Auflösung all dessen erlebt, was er in seinem Leben für sicher gehalten hat: Die wenig leidenschaftliche, aber trotz seiner Untreue stabile Ehe mit Delphine, die Beziehung zu seiner kleinen Tochter, das gesicherte Dasein durch den Verkauf landwirtschaftlicher Maschinen in seiner selbst aufgebauten, florierenden Firma. Amalric zieht damit auch die Querverbindung zu seiner letzten Regiearbeit „Tournée“ (fd 40 615), in dessen Zentrum ebenfalls die Erkenntnis eines Mannes stand, dass der Erfolg seines Unternehmens wie seine ganze Existenz auf höchst fragilem Grund errichtet ist. Erneut übernimmt Amalric auch selbst die Hauptrolle und zeichnet einen wunderbar undurchdringlichen Charakter: Der verschlossene Julien erscheint mal selbstsüchtig und kaltschnäuzig bis durchtrieben, dann aber wieder als unschuldiges Opfer, das ungläubig und passiv verfolgt, wie die Schlinge sich immer enger um seinen Hals zuzieht. Die Atmosphäre wachsender Verunsicherung bleibt auch deshalb außergewöhnlich stimmig, weil Amalric die nicht-chronologische Erzählweise der Vorlage beibehalten hat. Von den Verhören durch den Untersuchungsrichter blendet er immer wieder in die Zeit der Affäre und der nachfolgenden Ereignisse zurück: Juliens Versuch, der Geliebten aus dem Weg zu gehen, der plötzliche, wenn auch nicht völlig überraschende Tod ihres von Geburt an kranken Ehemanns und in der Zeit danach immer wieder anonyme Nachrichten mit aufgeklebten Buchstaben, die Julien nahezulegen scheinen, dass er sich nun seiner Frau entledigen solle. Mit den Sprüngen zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen hält der Film nicht nur die Frage nach dem tatsächlichen Geschehen offen, er spiegelt zugleich die mentale Weigerung seiner Hauptfigur, sich über die eigene Schuld klarzuwerden. In die verschachtelte Narration streut Amalric geschickt Vorzeichen auf das kommende Unheil ein: Ein herabfallender Klecks Marmelade, der an den Blutfleck vom Anfang des Films erinnert, ein Zwischenfall beim Familienurlaub, als Julien und Delphine sich gegenseitig neckisch im Meer untertauchen und Julien den richtigen Moment zum Aufhören verpasst. In der Art, wie sich so in vorgeblich harmlose Szenen bedrohliche Untertöne einschleichen, zollt „Das blaue Zimmer“ den Werken von Alfred Hitchcock Tribut, denen Amalric auch mit seiner meisterlich unterkühlten Inszenierung nacheifert. Emotionale Identifikationshilfen unterbleiben in der ziemlich hermetischen Form des auf 76 Minuten konzentrierten Films bewusst, ebenso wie die von Léa Drucker und Stéphanie Cléau präzise verkörperten Parts der Ehefrau und Geliebten kein Eigenleben gewinnen können – nachvollziehbarerweise, da sie ausschließlich aus Juliens Blickwinkel gezeigt werden, der sich selbst die Anteilnahme versagt. Das führt dazu, dass einem die Figuren zwar nicht ans Herz wachsen; trotzdem fesseln sie durchweg die Aufmerksamkeit des Zuschauers.
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