In meinem Kopf ein Universum

Drama | Polen 2013 | 111 Minuten

Regie: Maciej Pieprzyca

Ein spastisch gelähmter junger Mann, der von seinen Eltern mit großer Liebe und Hingabe aufgezogen wurde, soll vor einer Kommission sein Menschsein beweisen. Der von realen Ereignissen inspirierte Film über die Nöte und verzweifelte Selbstfindung eines in seiner Innenwelt eingekerkerten Jungen schildert extrem eindringlich dessen Kampf um Selbstbestimmung. Das klassisch strukturierte Entwicklungsdrama wird von zwei herausragenden Schauspielern getragen, die das ganze Ausmaß der Einschränkung, aber auch die Kraft und Willensstärke des Protagonisten sichtbar machen. Ein eindringliches Plädoyer auf das Recht behinderter Menschen an einer kommunikativen Teilhabe an der Gesellschaft. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
CHCE SIE ZYC
Produktionsland
Polen
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
Tramway Film Studio
Regie
Maciej Pieprzyca
Buch
Maciej Pieprzyca
Kamera
Pawel Dyllus
Musik
Bartosz Chajdecki
Schnitt
Krzysztof Szpetmanski
Darsteller
Dawid Ogrodnik (Mateusz) · Dorota Kolak (Mateusz' Mutter) · Arkadiusz Jakubik (Mateusz' Vater) · Helena Sujecka (Matylda) · Mikolaj Roznerski (Tomek)
Länge
111 Minuten
Kinostart
09.04.2015
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Jugendfilm
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Verleih DVD
Universum (16:9, 2.35:1, DD5.1 pol./dt.)
Verleih Blu-ray
Universum (16:9, 2.35:1, dts-HDMA pol./dt.)
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Klassisch strukturiertes Entwicklungsdrama

Diskussion
Jahrzehntelang muss der spastisch gelähmte Mateusz mit der fatalen Fehldiagnose leben, schwachsinnig zu sein. Seine schwere körperliche Behinderung macht es ihm unmöglich, sich zu artikulieren, dabei wünscht er sich nichts sehnlicher. Doch nur seine Eltern glauben an die Intelligenz ihres Sohns, auch wenn sie ihn nicht verstehen. Sie lehnen das freundlich gemeinte Angebot ab, ihn in einem Heim für geistig behinderte Menschen unterzubringen. Von ihnen gehalten und unterstützt, lernt Mateusz mühsam zu erkunden, wie der Alltag und soziale Beziehungen funktionieren. Mehr und mehr identifiziert er sich mit dem Selbstbehauptungswillen und Durchhaltevermögen des von ihm schwärmerisch verehrten Vaters, gerade auch dann, als er als junger Erwachsener nach einem Unfall der Mutter doch in ein Spezialheim eingewiesen wird. Maciej Pieprzyca wurde zu seinem Film über die Nöte und die verzweifelte Selbstfindung eines in seinem Körper und seiner Innenwelt eingekerkerten Jungen durch reale Ereignisse angeregt. Indem er das Geschehen zeitlich im noch kommunistischen Polen beginnen lässt, macht er solch abwertende Vorstellungen von Behinderung als ideologisches Erbe deutlich, das bis heute überdauert hat. Mit bleichen, pastellfarbenen Einstellungen markiert er, wie wenig Buntes, Kontrastreiches der Alltag eines schwerstbehinderten Menschen in dieser Gesellschaft aufzuweisen hat. Schafft dieser es nicht, den wissenschaftlich legitimierten Intelligenzmessungen, wonach eine Aufgabe in einer vorbestimmten Zeit zu lösen ist, zu entsprechen, wird er zu einem geistig Dahinvegetierenden erklärt, der keinerlei Anregung wert ist. Einem Tier gleich soll der behinderte Mensch lediglich von einem Reiz-Reaktion-Schema bestimmt sein. So ist der Protagonist dazu verurteilt, seine Zeit in den immer gleichen, begrenzten Innenräumen zu verbringen, weshalb Außenaufnahmen und wechselnde Schauplätze Film selten sind. Solche Urteile will Pieprzyca entkräften und betont daher das Recht auf Selbstbestimmung. Der Geschichte liegt das klassische Muster eines Entwicklungs- und Erziehungsromans zugrunde, erzählt aus der Innenperspektive des Helden, die durch Voice-Over und pointierte subjektive Kameraeinstellungen hergestellt wird. Im entscheidenden Moment von Mateusz’ Werdegang setzt der Film ein: Der bereits Erwachsene soll vor einer Kommission sein Menschsein beweisen und sieht sich in kafkaesker Manier den prüfenden Augen der Gesellschaft gegenüber. Aus dieser spannungsgeladenen Konfrontation springt der Film zurück in die Kindheit, schildert präzise und eindrücklich die Vorgeschichte der anstehenden Entscheidung, zunächst wie sich in den Halt gebenden Armen seiner Familie die Anlagen seiner Persönlichkeit auszubilden beginnen. Wenn die Kamera – oft im Stile Yasujiro Ozus – vom Boden aus filmt, über den Mateusz mit großer Mühe vorwärts robbt, spürt man das ganze Ausmaß von dessen Einschränkung, aber auch dessen Kraft und Willensstärke. Zwar macht der Protagonist die typischen Entwicklungsprozesse eines jeden Kindes und Jugendlichen durch, erlebt sie aber innerhalb eines eng gezurrten Handlungsspielraums. Knapp und treffend fängt der von dem eindringlichem Spiel der beiden Darsteller Kamil Tkacz und Dawid Ogrodnik getragene Film dies ein. Erst Jahre später vollendet sich Mateusz’ Entwicklung durch die Erziehung im gesellschaftlichen Raum. Gerade auch jungen Menschen macht der Film anschaulich, wie wichtig es ist, auch Menschen mit Behinderungen eine Bildung angedeihen zu lassen, mit der sie zur kommunikativen Teilhabe befähigt werden, wozu es äußerst engagierter Gleichaltriger und Erzieher bedarf. Mit diesem Anliegen gesellt er sich thematisch zu Jean-Pierre Alméris’ „Die Sprache des Herzens“: Anhand beider Filme lässt sich bestens darüber diskutieren, welche Tragweite die Rede von der Inklusion überhaupt besitzt.
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