Der Letzte der Ungerechten

Dokumentarfilm | Frankreich/Österreich 2013 | 220 (DVD 210) Minuten

Regie: Claude Lanzmann

Aus dem in seinem Dokumentarfilm „Shoah“ (1985) nicht verwendeten Material formt Claude Lanzmann ein dreieinhalbstündiges, klug strukturiertes Porträt des Wiener Rabbiners Benjamin Murmelstein, der redselig, aber sehr informativ über seine jahrelange Zusammenarbeit mit Adolf Eichmann erzählt. Als so genannter Judenältester leitete er von Herbst 1944 an das KZ Theresienstadt. Das formal ambitionierte Werk stimmt über die Rehabilitation Murmelsteins hinaus eine Art Totengebet für die Ermordeten an. (Teils O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LE DERNIER DES INJUSTES | DER LETZTE DER UNGERECHTEN
Produktionsland
Frankreich/Österreich
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
Synedoche/Le Pacte/Dor Film
Regie
Claude Lanzmann
Buch
Claude Lanzmann
Kamera
Caroline Champetier · William Lubtchansky
Schnitt
Chantal Hymans
Länge
220 (DVD 210) Minuten
Kinostart
07.05.2015
Fsk
ab 0
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Heimkino

Die Edition enthält eine Audiodeskription für Sehbehinderte. Die DVD enthält ein Booklet mit Biografien, Glossar, Interview und einem Essay von Benjamin Murmelstein aus der "Neuen Zürcher Zeitung" von 1963. Seit 2017 ist der Film Bestandteil der DVD-Edition "Shoah Fortschreibungen", die auch noch Lanzmanns Filme "Ein Lebender geht vorbei" (1999), "Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" (2001) und "Der Karski-Bericht" (2010) enthält.

Verleih DVD
absolut MEDIEN (16:9, 1.78:1, DD2.0 frz./dt.)
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Kaddisch für Theresienstadt. Von Claude Lanzmann

Diskussion
Das Ort und das Wort: Das ist das Grundaxiom des filmischen Lebenswerkes von Claude Lanzmann, dem er auch in seinem jüngsten Seitenstrang zum „Shoah“-Projekt getreulich folgt. Die Aussage der Augenzeugen des Holocaust, hier dem Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein (1905-1989), werden mit gegenwärtigen Bildern der Orte und Gegenden verbunden, von denen die Interviewten erzählen. Ausgangsbasis des fünften „Shoah“-Nachfolgers sind elf Filmstunden von Lanzmanns Gesprächen aus dem Jahr 1975 mit Murmelstein, der vom Herbst 1944 an den sogenannten „Judenrat“ im KZ Theresienstadt leitete. Ein Posten zwischen „Hammer und Amboss“, wie der eloquente Murmelstein seine ambivalente Rolle charakterisiert, als Handlanger von Eichmann an der „Endlösung“ mitgewirkt zu haben, um den Weg in die Gaskammer hinauszuzögern. Die mehr als dreieinhalbstündige Länge des Films ist dabei nicht allein Murmelsteins enormer Redefreudigkeit geschuldet; ungeachtet seiner Emphase ist das, was der alte Mann erzählt, präzise und historisch enorm informativ; so muss das öffentliche Bild von Adolf Eichmann als eines „Schreibtischtäters“ nach Murmelsteins Einlassungen deutlich nachjustiert werden, da Murmelstein Eichmanns korrupte Seite enthüllt und ihn als „Dämon“ beschreibt. Lanzmann nutzt die Aufbereitung des Interview-Materials allerdings auf seine Weise, um ein weiteres Kapitel der Vernichtung des europäischen Ostjudentums zu erzählen. Man staunt, mit welcher Souveränität und Klarheit der fast 90-Jährige dabei zu Werke geht, wie er ein vorbildliches Kapitel „oral history“ in einen klug strukturierten, äußerst spannenden Film verwandelt. Lanzmann ist in Theresienstadt vor Ort, er lässt die Kamera durch die alten Festungsanlagen wandern, rekapituliert unter dem Galgen die Massaker und Exzesse der SS, webt Zeichnungen der Inhaftierten ein, verwendet gelegentlich (aber weiterhin sehr zurückhaltend) historische Fotografien. Inhaltlich ist der Film an der biografischen Linie von Murmelsteins Leben aufgehängt. Es geht nicht nur um Theresienstadt, sondern ausführlich auch um Murmelsteins Erfahrungen in den späten 1930er-Jahren nach dem „Anschluss“ Österreichs, als der Rabbiner für die jüdische Gemeinde mit Eichmann über die Emigration der Juden nach Madagaskar verhandelte; der Vorläufer der Endlösung in Nisco kommt zur Sprache, und ausführlich auch die abgründige Geschichte der „Stadt, die der Führer den Juden schenkte“, inklusive des von Kurt Gerron inszenierten NS-Propagandafilms „Theresienstadt“ (1944). Was „Der Letzte der Ungerechten“ über seinen enormen Informationswert oder eine bloße Ergänzung zum monumentalen „Shoah“-Epitaph (1985) hinaus zu einem eigenständigen, formal sehr ambitionierten Werk macht, ist seine Vielschichtigkeit. In der einzigen Wiener Synagoge, die bei der Pogromnacht am 9. November 1938 nicht zerstört wurde, wird eingangs schon der Eröffnungshymnus des jüdischen Versöhnungsfestes gesungen; in voller Länge, später zweimal das Kaddisch, das Gebet zum Gedenken der Toten. Ans Ende des Films hat Lanzmann die Frage nach Murmelsteins „Kollaboration“ mit den Henkern gesetzt; dafür saß er nach dem Krieg eineinhalb Jahre in Haft. Murmelstein ist kein Melancholiker, sondern auch im Alter noch ein Machtmensch, autoritär, auffahrend, in sein dunkles Wissen verliebt. „Der Letzte der Ungerechten“ rehabilitiert ihn posthum, weil Tragik und Größe dieses Mannes deutlich werden, der auf Lanzmanns Frage, warum in seinen bildmächtigen Reden nie ein menschliches Gefühl aufscheint, mit dem Vergleich eines Chirurgen antwortet, der bei der Operation auch nicht weinen dürfe, wenn er das Leben des Patienten retten wolle.
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