Sunrise - Arunoday

Drama | Indien/Frankreich 2014 | 85 Minuten

Regie: Partho Sen-Gupta

Obwohl die kleine Tochter eines Polizeiinspektors aus Mumbai schon vor zehn Jahren spurlos verschwunden ist, sucht der traumatisierte Mann noch immer nach ihr. Während er sich immer neuer Fälle vermisster Kinder annimmt, vermischen sich Träume, Rückblenden und Rachefantasien in wiederkehrenden Kreisbewegungen. Dabei gelingt es dem unabhängig produzierten Neo-Noir-Drama visuell, vor allem aber akustisch bravourös, die hoffnungslose Seelenstimmung des Protagonisten zum Ausdruck zu bringen, auch wenn halluzinogene Nachtclub-Szenen durchaus Einflüsse des Genrekinos von Nicolas Winding Refn verraten. Ein fiebriger Film, dessen stilistischer Eigensinn bisweilen etwas zu ornamental in den Vordergrund drängt. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ARUNODAY | SUNRISE
Produktionsland
Indien/Frankreich
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Independent Movies/NFDC/Dolce Vita Films/Infinitum Prod./Aryasaa Cine Prod./Good Lap Prod.
Regie
Partho Sen-Gupta
Buch
Partho Sen-Gupta
Kamera
Jean-Marc Ferrière
Musik
Eryck Abecassis
Schnitt
Annick Raoul
Darsteller
Adil Hussain (Inspektor Joshi) · Tannishtha Chatterjee (Leela) · Ashalata Wabgaonkar (Radhabai) · Gulnaaz Ansari (Komal) · Esha Amlani (Naina)
Länge
85 Minuten
Kinostart
20.08.2015
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Krimi
Externe Links
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Ein fiebriges Neo-Noir-Drama

Diskussion
Der titelgebende Sonnenaufgang bleibt aus. „Sunrise“ ist ein waschechter Nachtfilm, mehr noch: einer der ersten indischen Neo-Noirs. Finsternis, Schatten und Low-Key-Beleuchtung schaffen dabei aber nicht nur eine atmosphärische Grundierung. Sie sind der mentale Stoff einer Erzählung, die sich tief in die verschiedenen Wahrnehmungsschichten einer beschädigten Seele eingräbt. Joshi arbeitet als Inspektor im Großstadtsumpf von Mumbai. Täglich sitzen verzweifelte Eltern in seinem Büro und halten ihm Fotos ihrer entführten, vielleicht schon ermordeten Kinder entgegen. Es ist die ewige Wiederholung der eigenen seelischen Erschütterung, denn auch Joshis kleine Tochter Aruna ist seit vielen Jahren verschwunden. Ein Trauma, das die Ehefrau in den Wahnsinn getrieben hat. Um dieses eher schmale Gerüst spinnt sich eine fiebrige, non-lineare Erzählung, in der Gegenwart, Rückblende, Traum und Wunschfantasie geradezu symbiotisch zirkulieren. Der eruptiven Dynamik zielloser Verfolgungen durch die Nacht stehen auf der anderen Seite die Lethargie des Polizeiapparates entgegen, Wortarmut bis hin zu lähmender Stummheit und ein verlangsamtes Erzähltempo, das den Trägheitsbewegungen im Traum ähnelt. Der indische Regisseur Partho Sen-Gupta arbeitete lange Zeit als Set Designer für kommerzielle Bollywood-Produktionen; er war aber auch künstlerischer Leiter bei Alain Corneaus „Nächtliches Indien“ (fd 28 667). Man merkt „Sunrise“ in jedem Moment an, wieviel Sorgfalt auf Szenenbild, Ausstattung, Kostüme und Licht verwendet wurde. Das Setting beschränkt sich im Wesentlichen auf Hinterhöfe, Unterführungen, dunkle Gassen, schäbige Wohnblocks und Rohbauten. Schwache, dunkle Gelbtöne, das kalte Weiß der Neonlichter und die brennend roten Farben des „Club Paradise“, in den Joshi auf fast telepathische Weise wiederholt geführt wird, durchbrechen die Dunkelheit nur punktuell. Für schlechte Sichtverhältnisse sorgt außerdem der allgegenwärtige Monsunregen. Er verwandelt alles in einen feuchten, dunklen Sumpf, verschleiert die Sicht, klatscht gegen Joshis Brillengläser oder beschlägt sie. Und er ist laut. Selten wurde dem Regen im Film eine so facettenreiche Akustik abgerungen: dröhnendes Prasseln, das schmatzende Geräusch von Gehen in Pfützen, von Reifen auf dem nassen Asphalt, von rhythmisch quietschenden Scheibenwischern. Vor allem in den traumartigen, halluzinogenen Nachtclubszenen, in denen die entführten Mädchen zum Auftritt gezwungen werden, zeichnen sich Anleihen an die hochstilisierten Genrefilme von Nicolas Winding Refn ab. Dumpfe Clubrhythmen durchmischen sich mit indischen Klängen, das Bühnengeschehen scheint regelrecht zu glühen, während sich im männlichen Publikum zwielichtige Blicke und Gesten aus der Dunkelheit herausschälen. Auch wenn die Inszenierung den Menschenhandel nur ausschnitthaft zeigt, scheut sie keineswegs vor grellen Emblemen zurück: Die Bilder mascara-verschmierter Mädchengesichter sind reiner Pulp. In den eher alltagsnahen Beschreibungen gerät manche Überzeichnung, etwa die Ehefrau, die manisch Kinderkleider wäscht, oder ein Vater, der mit einer Puppe auf dem Polizeirevier sitzt, hingegen zum Psycho-Klischee. Mitunter drängt sich der Stil doch etwas zu ornamental in den Vordergrund. Partho Sen-Gupta zählt zu einer neuen Generation unabhängiger indischer Filmemacher, die jenseits von Bollywood über die gesellschaftlichen Verhältnisse im heutigen Indien erzählen. Auch wenn sich „Sunrise“ vom realistischen Kino entschieden entfernt, ist der Wirklichkeitsbezug doch immer spürbar; von 100.000 vermissten Kindern jährlich liest man im Abspann. Delirierend kreist dieser Film um diese klaffende Lücke. Sie ist so allgegenwärtig wie der prasselnde Regen.
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