Dokumentarfilm | Deutschland 2015 | 83 Minuten

Regie: Saskia Walker

16 Menschen im Alter zwischen 13 und 74 Jahren sprechen über ihre sexuellen Erfahrungen, Ansprüche, Wünsche und Enttäuschungen. Die nicht näher vorgestellten Gesprächspartner wurden nicht repräsentativ ausgewählt, stimmen bei aller Unterschiedlichkeit aber im Ideal der heterosexuellen Paarbildung überein. Der literarisch gebildete und hochreflektierte Interviewfilm gewinnt seine Spannung aus der Art, wie über Sex und Liebe gesprochen wird. Nur wenige geben sehr persönlich Auskunft, eher wird in Anekdoten erzählt oder zu kulturwissenschaftlichen Exkursen ausgeholt. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
sprechfilm
Regie
Saskia Walker · Ralf Hechelmann
Buch
Saskia Walker · Ralf Hechelmann
Kamera
Andreas Haas
Musik
Michael Gross
Schnitt
Laia Prat
Länge
83 Minuten
Kinostart
10.09.2015
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Spannende „Interviews“ zum deutschen Liebesleben

Diskussion
„Lass uns nicht von Sex reden / Ich weiß gar nicht, wie das gehen soll: sich vereinigen / kann ich mehr als berühren und fühlen?“, fragt die Band Blumfeld 1992 auf ihrem Debütalbum „Ich-Maschine“. Trotz dieser ernstgemeinten Warnung haben sich die Filmemacher Saskia Walker und Ralf Hechelmann daran gemacht, Menschen vor der Kamera über und von Sex (und Liebe), von ihren Erfahrungen, Ansprüchen und Enttäuschungen reden zu lassen. 16 Personen im Alter von 13 bis 74 Jahren kommen in ausgesprochenen Interviewsituationen mal mehr, mal weniger ausführlich zu Wort. Da die einzelnen Gesprächspartner nicht mit Namen, Alter, Bildungsgrad, Biografien oder sexueller Präferenz vorgestellt werden, muss der Zuschauer sich seinen Reim aus der Wortwahl, dem Habitus und vielleicht auch den Interieurs machen, um die Beiträge gewichten zu können. Auch sind die Ausgangsfragen der Filmemacher nicht zu hören, wenngleich sie aufgrund der Antworten mitunter rekonstruierbar sind. Zwischen die einzelnen Interviewpassagen, bei denen man bisweilen den Eindruck hat, dass sie sich aufeinander beziehen könnten, sind ein paar Straßenszenen montiert, die einerseits bewusst „leer“ erscheinen, andererseits aber auch Momente enthalten, die auf eine Inszenierung hindeuten. Sie sind wohl als Ruhepole gedacht, um sich von der Abfolge der Talking Heads erholen zu können. Allerdings wird diese Funktion des Ruhepols innerhalb eines mäandernden Diskurses durch eine aufdringlich-enervierende Form von Jazz-Filmmusik mithin etwas hintertrieben. Spannend ist der Film auf jeden Fall, weil die Protagonisten so viel Raum bekommen, dass tatsächlich so etwas wie Persönlichkeiten und Interaktionen entstehen, zumal, wenn die Kamera zwei Gesprächspartner im Blick behält und man beobachten kann, wie eine Aussage durch Blicke kommentiert wird. Es ist sicherlich keine repräsentative Auswahl von Gesprächspartnern, die sich dort vor der Kamera versammelt. Das wird schnell klar, wenn von den Gesprächspartnern Augustinus, Martin Luther, Ulrich Horstmann oder Rilke ins Spiel gebracht werden, wenn aus dem Briefwechsel von Pasternak zitiert oder eine Szene aus Viscontis „Der Leopard“ (fd 12 378) erinnert wird. Es geht deutlich assoziativ um Sex, die damit verbundenen Wünsche und Ansprüche inklusive der Schwierigkeit, sie mit dem Partner zu synchronisieren, um Fragen der Autonomie in der Paarbindung, um Sex ohne Liebe und Liebe ohne Sex. Ist Sex wichtig für die Gesundheit oder doch ein angenehmer „Zeitvertreib“? Ist Sex in der Freundschaft realisierbar? Offenbar ändert sich die Haltung zum Sex auch mit fortschreitendem Alter. Während der jüngste Gesprächspartner sich dem Gegenstand mit Vorstellungen von Mathematik und Wahrscheinlichkeit nähert und nicht ausschließen mag, dass charakterliche Vorzüge ästhetische Defizite ausgleichen können, blicken die Älteren auf widersprüchliche Erfahrungen zurück und preisen auch schon mal die Freuden der Keuschheit. Doch so unterschiedlich die Bildungsniveaus und die Temperamente der Befragten auch sein mögen, so gleichförmig scheint ihre Auswahl hinsichtlich der herrschenden Norm. Zwar soll hier das Zufallsprinzip gewaltet haben, aber es ist schon etwas merkwürdig, wenn nahezu alle Befragten sich innerhalb traditioneller Vorstellungen von heterosexuellen Paarbindungen bewegen. Da gibt es zwar den eloquenten Franzosen, der mehrere Beziehungen gleichzeitig zu handhaben weiß, der aber durch seine Kinderwunsch plötzlich von einer festen Zweierbeziehung zu träumen beginnt. Wenn es rein körperlich trotz großer Liebe nicht so richtig mit dem Sex funktioniert, wird dem Mann schon mal eine offene Beziehung angeboten, doch das nicht wahrgenommene Angebot scheint die Karten positiv neu zu mischen. Zudem klafft eine erstaunliche Spannung des Films tatsächlich aus der Art und Weise, wie über Sex gesprochen wird. Wenige reden sehr persönlich, eher wird doch die ein oder andere Anekdote eingeflochten oder gar zum kulturwissenschaftlich anmutenden Exkurs ausgeholt, weil es interessanter scheint, über die kulturellen Überformungen des Sex als über „the real thing“ zu reden. Sind das entlastende Rationalisierungen? So träumt der Jüngste der Runde davon, dass einmal ein Mädchen auf ihn zukommt und ihn nach seiner Nummer fragt. Er würde auch antworten, weiß indes, dass dies heutzutage eher unwahrscheinlich ist, weil Mädchen lieber mit ihren Freundinnen shoppen gehen oder in der Öffentlichkeit eher mit ihren Handys beschäftigt sind, als einen Jungen zu bemerken. Zu dieser Nachdenklichkeit passt es bestens, dass sich unter den Befragten keine (S)Extremisten finden, keine Provokateure, Grenzüberschreiter oder auch marodierenden Steinzeit-Machos. Die „Sprache: Sex“ ist hochreflektiert, literarisch gebildet und träumt irgendwie ziemlich lauwarm vom kleinen Glück im Winkel.
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