Drama | Japan 2015 | 317 Minuten

Regie: Ryûsuke Hamaguchi

In der japanischen Stadt Kobe treffen sich immer wieder vier Freundinnen Mitte 30, um Zeit miteinander zu verbringen und sich über ihr Leben und ihre Erfahrungen auszutauschen. Als eine von ihnen erzählt, dass sie sich von ihrem Mann scheiden lassen will, stellt das die anderen in Frage. Ihre sanften, existenzialistischen Ausbruchsversuche, die sich daran anschließen, führten jedoch nicht sehr weit; es breitet sich vielmehr eine tiefe Traurigkeit und Einsamkeit aus, die in großer Zurückhaltung gefilmt werden. Darüber entsteht ein Kaleidoskop der japanischen Gegenwart, die sich nur mühsam aus festgezurrten Geschlechterrollen befreit. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
HAPPY HOUR
Produktionsland
Japan
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Fictive/Neopa/Kobe Workshop Cinema Project
Regie
Ryûsuke Hamaguchi
Buch
Ryûsuke Hamaguchi · Tadashi Nohara · Tomoyuki Takahashi
Kamera
Yoshio Kitagawa
Musik
Umitarô Abe
Darsteller
Maiko Mihara (Fumi) · Sachie Tanaka (Akari) · Rira Kawamura (Jun) · Hazuki Kikuchi (Sakurako) · Shuhei Shibata (Ukai)
Länge
317 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Vier Freundinnen aus der japanischen Stadt Kobe brechen aus ihren eingefahrenen Beziehungen aus, doch auch das bringt viele Kompromisse und Verletzungen mit sich.

Diskussion

Die Arima Onsen (Onsen bedeutet heiße Quellen) in der Nähe von Kobe sind ein seit über 1300 Jahren existierender Badeort. Als solcher haben sie sich in die japanische Geschichte eingeschrieben. Es ist durchaus von Bedeutung, dass Ryūsuke Hamaguchi seinen Film „Happy Hour“ rund um einen Besuch dieses Ortes ansiedelt. Dabei verweist auf den ersten Blick nichts auf Geschichtlichkeit. Ganz im Gegenteil. Die einfühlsame Charakterstudie von vier Frauen in ihren Dreißigern verortet sich so sehr in der Gegenwart, dass die entgegen des Titels vorherrschende Traurigkeit wie eine verständnisvolle Umarmung von der Leinwand herunterreicht. Allerdings sind die Erwartungshaltungen an diese Frauen historisch, um nicht zu sagen veraltet. Der langsame, widersprüchliche und teilweise scheiternde Ausbruch der Protagonistinnen aus Traditionen und inneren Gefängnissen gehört zum Wahrhaftigsten, was man in den letzten Jahren im internationalen Kino bewundern konnte. Der Film bringt Verständnis auf, für das, was man fühlt, egal wie unverständlich es ist.

Die Laufzeit von „Happy Hour“ beträgt über fünf Stunden. Doch Vergleiche mit Serien oder einer Koryphäe des überlangen Films wie Lav Diaz verlaufen im Sand. Denn wie in allen Filmen von Ryūsuke Hamaguchi entsteht die Länge vor allem aus den ausführlichen Dialogen und den performativen Passagen, in diesem Fall aus einem Workshop und einer Lesung. Die Filmdauer ist einzig Hamaguchis Zuneigung zu den Figuren geschuldet, und dem unbedingten Willen, dass jede und jeder Einzelne als Mensch greifbar wird, ohne dass sich alles in pseudo-psychologischem Wohlgefallen auflöst.

Vier Frauen treffen sich

Die vier Freundinnen im Zentrum der Handlung treffen sich zunächst außerhalb ihres täglichen Lebens bei einem Ausflug in die Natur. Der Film wird sie immer wieder treffen, wenn sie sich aus dem Alltag lösen. Aber auch ihr restliches Leben wird gezeigt. Akari (Sachie Tanaka) ist Single, nachdem sie von ihrem Mann betrogen wurde. Sie arbeitet als Krankenschwester und probiert sich in verschiedenen Beziehungen aus. Hamaguchi zeigt sie als lebensfrohe, impulsive Frau. Sie ist rabiat, verspielt und verletzlich.

Sakurako (Hazuki Kikuchi) lebt mit ihrem Teenagersohn, ihrem Mann und gelegentlich auch dessen Mutter als Hausfrau. Ihr Leben ist seltsam abgestorben, gefühllos, kalt. Sie schweigt viel, ist aber verletzt und sehnt sich danach, begehrt zu werden. Fumi (Maiko Mihara) arbeitet in einer Kunstgalerie. Auch sie ist verheiratet. Auf den ersten Blick scheint ihr Ehemann einfühlsamer als der kalte Gatte von Sakurako.

Doch das mit dem ersten Blick ist in „Happy Hour“ selten richtig. Jede Figur versteckt und offenbart verschiedenste Facetten. Das Leben ist immer komplizierter als Eindrücke und dramaturgische Klischees. Das ist deshalb so, weil niemand kommunizieren kann. Vor allem dann nicht, wenn man widersprüchliche Gefühle äußern müsste. In den Figuren schlagen immer zwei Herzen. Eines, das verletzt, und eines, das liebt.

In Fumis Leben herrscht eine ganz ähnliche Kälte. Sie erträgt sie lange schweigend, geradezu würdevoll. Aber als sich Eifersucht beimischt, beginnt auch ihre Beziehung zu wanken. Schließlich gibt es noch Jun (Rira Kawamura). Sie ist der Auslöser für vieles, was den Freundinnen widerfährt, denn sie brachte die Freundinnen zusammen. Es ist ihr unschöner Scheidungsprozess, der die Lebenskrisen auslöst. Jun erlaubt sich, egoistisch zu sein. Sie hat etwas erkannt, was ihre Freundinnen erst noch erleben müssen. Jun hat einen Liebhaber; sie lügt, möchte sich verbinden, aber bleibt einsam. Irgendwann verschwindet sie. Ihr Ehemann will sie nicht gehen lassen. Sie bekommt ein Kind.

Treibgut des Patriarchats

Eigentlich zeigt Hamaguchi, den man in erster Linie als herausragenden Drehbuchautor verstehen muss, eine unglaublich konstruierte Geschichte. Vier Freundinnen, die sich wie Dominosteine gegenseitig umstoßen und auf einen langen Selbstfindungstrip durch Ehekrisen gehen. Sie sind das Treibgut eines gewaltvoll-stummen Patriarchats. Aber trotz der etwas überfrachteten letzten halben Stunde gelingt es dem Film, dass man diesen Menschen stets als Menschen folgt und nicht als dramaturgischen Ideen. Das liegt zum einen an Hamaguchis Herzenswärme, die in ihrer ernsthaften Betrachtung der Figuren an Jean Renoir erinnert. Außerdem schenkt er den Frauen und auch ihren zunächst äußerst problematisch erscheinenden Männern Widersprüche, sodass sich nach und nach das Gewicht eines Lebens aufbaut und ein schlichter Spaziergang durch Kobe oder eine Umarmung wie die schönste und bedeutendste Sache der Welt erscheint. Damit tritt Hamaguchi das Erbe von Yasujirô Ozu oder Mikio Naruse an, selbst wenn seine Filme formal deutlich weniger zu bieten haben. Sanftmut und Humanismus lassen „Happy Hour“ trotz oder mitsamt der traurigen Grundstimmung wärmend erscheinen.

Eine besondere Rolle fällt dabei Herrn Ukai (Shuhei Shibata) zu, einem seltsamen Charakter, der sich in der Kunstszene etabliert, weil er Trümmer am Strand so aufstellte, dass sie schief in einer eigentlich unmöglichen Balance standen. Er leitet den Workshop im Kunstatelier von Fumi, an dem die Freundinnen teilnehmen. Gleich zu Beginn stellt er einen Stuhl auf ein Bein. Wie bei einem Zaubertrick bleibt der Stuhl stehen. In seinem Workshop geht es um Körpersprache und Balance. Wo ist die innere Mitte? Wie können wir miteinander kommunizieren?

Hamaguchi, der den Workshop und eine spätere Lesung quasi dokumentarisch und in Echtzeit filmt, balanciert selbst in einer steten Ambivalenz. Er zeigt, dass Würde und Lächerlichkeit gleichzeitig existieren. Manche Situationen bauen sich wie in einer Fremdschäm-Komödie auf, nur um dann zu Tränen zu rühren. Und andersherum. Hamaguchis Trick besteht darin, seine Charaktere zur Ehrlichkeit zu zwingen. Wiederholt findet er Szenen, in denen die Figuren das teilen, was sie eigentlich verbergen wollen. Sei es, weil sie ein besonderes Vertrauen, eine Verzweiflung oder eine Befreiung durchleben.

Unerträglich, und unerträglich schön

Rund um Arima Onsen entblättern sich die Aggregatzustände eines Ereignisses: Vorfreude, Erlebnis, Erinnerung, Fiktion, Zusammenkunft, Trennung. Das alles macht den Besuch der Freundinnen im Naherholungsort aus. Ein letztes Lied auf die Freundschaft. Die Einsamkeit holt sie alle ein. Dass das Leben weitergeht, ist unerträglich, und unerträglich schön.

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