La marche à suivre - Guidelines

Dokumentarfilm | Kanada 2014 | 76 Minuten

Regie: Jean-François Caissy

Dokumentarfilm über die kanadische Schule „École Antoine-Bernard“ in Québec, der in unspektakulären Bildtableaus das Miteinander von Jugendlichen und Pädagogen beobachtet. Mit viel Geduld, teilweise aber auch mit ausdrücklicher Distanz folgt er dem Geschehen innerhalb der Schule und in der Freizeit, wozu auch Konflikte untereinander und mit Lehrern sowie das Austesten von Grenzen und erste Drogenerfahrungen gehören. Die abstrahierend-beiläufige Gestaltung protokolliert Schwierigkeiten und Rückschläge, aber auch die Erfolge und den Reifungsprozess der Zöglinge mit souveränem Stilwillen. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LA MARCHE À SUIVRE
Produktionsland
Kanada
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Office national du film du Canada
Regie
Jean-François Caissy
Buch
Jean-François Caissy
Kamera
Nicolas Canniccioni
Schnitt
Mathieu Bouchard-Malo
Länge
76 Minuten
Kinostart
08.10.2015
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Kunstsinniges Porträt einer außergewöhnlichen Schule

Diskussion
Ein Auto nähert sich einem Wasserloch auf einer überschwemmten Straße. Anstatt das Hindernis schnell zu passieren, fährt es darin solange lustvoll hin und zurück, bis schließlich eine Person ins Bild kommt, die die Aktion mit dem Smartphone dokumentiert. Genau diese Sorte von Selbstinszenierungen vor laufender Kamera hat der Filmemacher Jean-François Caissy in seiner dritten langen Dokumentation zu vermeiden versucht, weshalb er sich konsequent von Schuss-Gegenschuss-Konventionen verabschiedet. Caissy, der von der Kunst-Fotografie kommt, wählt stattdessen eine Reihe von meisterlichen, wenngleich unspektakulären Breitbild-Tableaus, die die Figuren erst während des Drehs „betreten“. So sieht man zwei Stangen auf einem Rasen und hört aus dem Off ein paar Jugendliche. Erst als sie ins Bild kommen, erkennt man, dass es sich um ein provisorisches Fußballtor handelt. Mit dem Spielverlauf entfernen sich die Spieler dann wieder aus dem Tableau, sind nur noch zu hören. Diese Tableaus dienen als Interpunktionen zwischen einer ganzen Reihe von persönlichen Gesprächen, die von Sozialpädagogen mit Schülern und Schülerinnen der „École Antoine Bernard“ in der frankokanadischen Provinz geführt werden. In Einzel- oder Zweiergesprächen geht es um Mobbing, Disziplinprobleme, Beleidigungen, Prügeleien, Drogenmissbrauch, das Stören des Unterrichts, Schwänzen und allerlei andere Auffälligkeiten. Auch hier bleibt die Kamera ganz diszipliniert bei den Jugendlichen; die Stimmen der Sozialpädagogen kommen aus dem Off. Dafür hat man Zeit, die Schülern zu beobachten, die sich manchmal hinter ihren Haaren verstecken, die bockig sind und nur sehr widerstrebend „zur Sache“ sprechen. Es bleibt offen, inwieweit es sich bei den Vorgeladenen um besonders schwierige Schüler handelt. Allerdings fällt auf, dass die Kommunikation zwischen den Sozialpädagogen und den Lehrkräften an der Schule sehr intensiv sein muss, denn immer wieder wird den Schülern klar gemacht, dass man um sie und ihre Probleme weiß, und dass im Gespräch an ihre Einsicht appelliert wird. Durch die Geduld und die teilweise explizit gewahrte Distanz, mit der die Kamera teilweise aus der Entfernung oder durch Fenster beobachtet, signalisiert die Inszenierung neugierige Empathie. In den Gesprächen wird aber auch deutlich, wie schwierig es für die Jugendlichen mitunter ist, ihr Verhalten und die damit verbundenen Probleme „rational“ zu formulieren. Wenn sie versuchsweise wieder ins Kindliche flüchten, kann einem das Eingangsbild mit dem Auto und der Pfütze wieder in Erinnerung kommen. Die Schüler, die zum Teil einen sehr weiten Schulweg haben, verbringen viel Zeit in der Schule: sie trainieren in der Sporthalle, erledigen die Hausaufgaben und vertreiben sich die Zeit, bis der Schulbus sie am Abend nach Hause bringt. In einer der schönsten Einstellungen gelingt es Caissy und seinem Kameramann Nicolas Canniccioni, zu den Klängen von Steve Reichs „Music for 18 Musicians“ aus an- und abfahrenden Schulbussen eine regelrechte Choreografie zu montieren. Der Film zeigt die Jugendlichen aber auch bei ihren Freizeitbeschäftigungen außerhalb der Schule. Je nach Jahreszeit und Alter fährt man Fahrrad, Quads, Motorschlitten, probt mit der Heavy-Metal-Band im Übungsraum, springt von einer Eisenbahnbrücke in einen Fluss oder signiert Straßen mit den Spuren der Pneus. Dabei wird mit unterschiedlichsten Fahrzeugen so viel Staub aufgewirbelt und Qualm produziert, dass eine unmittelbare Beobachtung gerade unmöglich wird. Dieses selbstbezogene Vergnügen der Jugendlichen steht in deutlichem Kontrast zu den Übungen, sich im Gespräch Rechenschaft über sich selbst abzulegen und mit Kritik produktiv umzugehen. Die Schule fungiert als der Ort, an dem die Gesellschaft die Gelegenheit nutzt, Jugendliche auf geltende „Richtlinien“ aufmerksam zu machen, bevor sie ins Leben entlassen werden. Wenn ein Schüler den Sozialpädagogen vorwirft, dass sie kein Vertrauen in ihn hätten, anstatt seine Sachen hinzuwerfen und wütend den Raum zu verlassen, dann scheint der Prozess der Erziehung erfolgreich gewesen zu sein. Caissy zeigt all die Schwierigkeiten und Rückschläge auf dem Weg dorthin, aber mit großer Sympathie auch das, was diesem Prozess an Freiheit geopfert wird. Da dies zugleich mit einem abstrahierend-souveränen Stilwillen auftritt, zählt „La marche à suivre“ zu einer der bemerkenswertesten Studien über „Jugend“ seit Langem.
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