Madame Marguerite oder Die Kunst der schiefen Töne

Historienfilm | Frankreich/Tschechien 2015 | 129 Minuten

Regie: Xavier Giannoli

Im Jahr 1920 wünscht sich eine reiche Baronin trotz mangelnden Talents nichts sehnlicher, als eine gefeierte Operndiva zu sein. Die Hobby-Sängerin kommt ihrem Ziel näher, als sie von einem progressiven Musikkritiker nach einer Darbietung im privaten Kreis wegen ihrer passionierten Hingabe an ihre Musik hochgelobt wird. Frei nach der Vita von Florence Foster Jenkins (1868-1944) zeichnet die Tragikomödie ein vielschichtiges Frauenporträt. Zugleich spielt sie klug mit der Hinterfragung des Kunstbegriffs, indem sie die Sängerin mit der französischen Avantgarde-Bewegung in Zusammenhang bringt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
MARGUERITE
Produktionsland
Frankreich/Tschechien
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Fidélité Films/Gabriel Inc./France 3 Cinéma/Sirena Films/Scope Pict./Jouror Cinéma/CN5 Prod.
Regie
Xavier Giannoli
Buch
Xavier Giannoli · Marcia Romano
Kamera
Glynn Speeckaert
Musik
Ronan Maillard
Schnitt
Cyril Nakache
Darsteller
Catherine Frot (Marguerite) · André Marcon (Georges Dumont) · Michel Fau (Atos Pezzini) · Christa Théret (Hazel) · Denis Mpunga (Madelbos)
Länge
129 Minuten
Kinostart
29.10.2015
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Historienfilm | Komödie
Externe Links
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Vielschichtige tragikomische Hommage auf eine Möchtegern-Operndiva

Diskussion
Eigentlich ist es ungeheuerlich, wozu sich Madame Dumont erdreistet. Aber genau das macht ihre Figur so faszinierend: Die Baronin lässt sich als Operndiva feiern, obwohl sie keinerlei Begabung dazu hat. Ihre Stimme ist dünn, nicht immer trifft sie den Ton und wagt sich trotzdem an die schwierigsten Koloraturarien. Sie verfügt über das nötige Geld, um ihren Traum bedingungslos verfolgen zu können. Ohne jede Scham tritt sie auf ihrem Schloss bei einem Konzert für Kriegswaisen als „Königin der Nacht“ an. Die geschlossene Gesellschaft ist es gewohnt, den misstönenden Vortrag höflich über sich ergehen zu lassen, der Sängerin unter Regie ihres Butlers Madelbos gebührend zu applaudieren. Von der exquisiten Inszenierung lässt sich auch der unbestechliche Musikkritiker Lucien Beaumont einfangen, obschon ihm ihr mangelndes Talent nicht verborgen bleibt. Durch seine hymnische Kritik gefällt es Marguerite umso mehr, sich im Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit zu sonnen, sodass sie einen Konzertabend in der Pariser Oper plant. Für dieses große Ereignis soll der einstige Opernstar Atos Pezzini mit ihr ein passendes Programm einstudieren. Sehr plastisch macht Xavier Giannoli in seinem vielschichtigen Film deutlich, wie ein Künstler gemacht und dadurch letztlich selbst zum Kunstwerk wird. Da arbeiten der eigene Ehrgeiz und der anderer mit den Medien Hand in Hand, wobei es nicht immer um Kunst und Talent geht. Mit grotesk-komischen Mitteln deckt der Regisseur diese verkehrte Welt auf, veranschaulicht, wie sich alle einspannen lassen, weil sie von Marguerite profitieren. So auch ihr Lehrer Pezzini, der Oscar Wilde wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Gern nimmt er mit seinem illustren Tross das Geld und die hervorragende Verpflegung entgegen, auch wenn er es nicht schafft, Marguerites Stimme weiterzuentwickeln. Dass dies auf seine mangelnden Fähigkeiten als Gesangslehrer hindeuten könnte, erkennt er in seiner Selbstverliebtheit nicht. Offenbar verfügt er über keine Technik, mit der er den engen Raum bei Madame Dumont öffnen könnte. Sie stagniert trotz Unterricht. Mit Madame Dumont gelingt dem Film ein beeindruckendes fiktives Frauenporträt, für das die US-amerikanische Sängerin Florence Foster Jenkins Pate stand und die von Catherine Frot überzeugend verkörpert wird. Giannoli spürt der Tragik solch einer Entwicklung nach, die darin liegt, dass die Protagonistin in ihrem falschen Selbstbild bestärkt wird. Der Film spielt im Jahr 1920, einer Zeit, als sich Frauen von dem traditionellen Bild der Weiblichkeit emanzipierten und die „Gleichheit der Geschlechter“ entdeckten. Sie trugen die Haare kurz und strebten den zahlreichen Amüsierlokalen zu, um Kleinkunst und Sinnlichkeit zu erleben. Marguerite dagegen hält am weiblichen Geschlechterideal des 19. Jahrhunderts fest. Ihr Wunsch, von ihrem sie bevormundenden Ehemann anerkannt und bewundert zu werden, findet bei ihm freilich kein Gehör. Freundlich hält sie der Baron auf Distanz, und da er eine arbeitende Frau für unschicklich hält, verliert diese sich in der Musik, die ihr gestattet, ihre Emotionen auszuleben. Die ästhetisch durchkomponierte Ausstattung und der kunstvoll arrangierte Soundtrack machen wunderbar deutlich, dass Marguerite in den erlesenen Räumen des Schlosses eingesperrt ist wie in einen goldenen Käfig. Alles ist geschmackvoll drapiert, makellos spiegelt sich die Oberfläche. Doch die Freiheit, die sich die Protagonistin nimmt, ist eine falsche. Marguerite weiß nicht um ihre unzureichende Stimme, ihr unterentwickeltes Selbst, und so gleicht sie einer der vielen unglückseligen weiblichen Opernfiguren. Der Zeremonienmeister Madelbos spielt bei ihrer Selbstinszenierung als Künstlerin die Hauptrolle: Über seine Figur kann der Film wie ein Metakommentar zur Traumfabrik gelesen werden. Der Butler bedient nüchtern die Apparatur, arrangiert und schießt die Fotos, die Marguerites angeblich große Opernengagements dokumentieren. Damit führt er stellvertretend vor, wie ein Regisseur sein Publikum manipuliert und dessen Gelüste und Gefühle wie Sensationslust, Mitleid und Verachtung zu befriedigen sucht.
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