Die Hälfte der Stadt

Dokumentarfilm | Deutschland/Polen 2015 | 88 Minuten

Regie: Pawel Siczek

Dokumentarfilm über den jüdischen Fotografen Chaim Berman, der bis 1939 als angesehener Bürger in einem zentralpolnischen Städtchen lebte und während der deutschen Besatzung ermordet wurde. Zu seiner und der Biografie der Stadt führen überlieferte Glasnegative, auf denen er polnische, deutsche und jüdische Mitbürger festhielt. Der Film beschwört das friedliche Miteinander und macht zugleich die existenziellen Bedrohungen durch die Politik der deutschen Besatzer und ihrer einheimischen Helfershelfer deutlich. Die leise, melancholische Erzählweise macht ihn zum Requiem auf eine versunkene, weithin vergessene Welt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Polen
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Leykauf Film/Balance Film/Follow Me Film Prod.
Regie
Pawel Siczek
Buch
Pawel Siczek
Kamera
Daniel Samer
Musik
Roman Bunka
Schnitt
Ulrike Tortora
Länge
88 Minuten
Kinostart
05.11.2015
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb | TMDB

Porträt des jüdischen Fotografen und Holocaust-Opfers Chaim Berman

Diskussion
Wie lässt sich eine Vergangenheit rekonstruieren, deren Spuren nahezu getilgt sind? Vor diese Frage sah sich Dokumentarist Pawel Siczek gestellt, als er die Geschichte des jüdischen Fotografen und Gemeindepolitikers Chaim Berman aus dem zentralpolnischen Städtchen Kozienice erzählen wollte. Berman war hier ein anerkannter Mitbürger, bis 1939 die Deutschen einmarschierten und ihn und seine Familie ins Ghetto verbannten. Die einzige Hinterlassenschaft, die die Zeiten überdauerte, sind fast 10.000 von ihm gefertigte Porträts auf Glasnegativen. Sie wurden von einem Nachbarn in einem Keller gefunden, viele von ihnen feucht, sodass sich die Emulsion aufzulösen begann. Erst ein Trocknungsprozess konnte den Zerstörungsvorgang aufhalten. Heute künden die Fotos von einem Leben, das es so nicht mehr gibt: von einer kleinstädtischen, weitgehend friedlichen Gemeinschaft aus Polen, Juden und Deutschen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Siczek tastet die Fotografien behutsam mit der Kamera ab, zeigt deren Wunden und Narben, kommt vor allem aber den darauf abgebildeten Menschen nahe, ihren Blicken und ihrem Lächeln, der gespannten Aufmerksamkeit im Moment der Aufnahme. Einmal ertönt dazu aus dem Off Stimmengewirr – deutsch, polnisch, russisch, jiddisch –, worauf der lakonische Kommentarsatz folgt, dass man heute auf den Straßen von Kozienice nur noch polnisch höre. Um die Welt von Gestern zu beschwören, bedient sich Siczek neben der Fotos vor allem ausgiebiger Animationselemente: Zeichentrickszenen im Stil naiver Bauernmalerei oder des frühen Marc Chagall. Keine weich verklärenden, romantisierenden Computeranimationen, sondern eine zurückhaltende, durch einfachen Strich und erdige Farbtöne geprägte Tricksprache. Schließlich holte der Regisseur auch Zeitzeugen vor die Kamera: etwa ein altes Paar, das sich an Berman erinnert, Chaims Neffe Alexander aus den USA oder die 80-jährige Tochter jenes Lehrers, der Bermans Familie wenigstens eine Zeitlang in seinem Keller vor dem Zugriff der Nazis verstecken konnte. Sie alle tragen dazu bei, die Biografien des Fotografen und seiner Familie wenigstens bruchstückhaft vor dem endgültigen Vergessen zu bewahren. Dabei nimmt der Film eher den Gestus eines Requiems als den einer Anklage an. Polemische Töne zum Thema des Opportunismus und der Mittäterschaft polnischer Landsleute sind ihm fremd. Sie werden nur indirekt angeschlagen, wenn der Film zeigt, wie Weltkriegsschlachten zwischen Polen und Deutschen von Laienspieltruppen heute auf einem Acker nachgestellt werden: Dutzende Männer lassen in historischen Uniformen den Krieg als Spektakel aufleben, jüdische Schicksale haben in dieser Volksbelustigung keinen Platz. Nur wer eine tiefe Vergangenheit besitzt, hat eine feste Zukunft. So lautet ein überlieferter Satz aus einer der Reden Chaim Bermans als Stadtrat. Zu dieser tiefen Vergangenheit gehört, wie der Film verrät, auch die Herkunft des Wortes Polen. Es entstammt dem Hebräischen: „Polin“ bedeutet: „Hier sollst Du zur Ruhe kommen.“ Seit dem unruhigen, existenziell bedrohlichen Mittelalter waren Juden in Polen beheimatet, glaubten, hier eine Oase der Toleranz gefunden zu haben. Allein in Kozienice lebten vor Beginn des Zweiten Weltkriegs mehr als 6.000 Menschen jüdischen Glaubens. Tatsächlich sähe der Ort, so sagt Chaims für einige Tage hierher zurückgekehrter Neffe, sehr friedlich aus: „Wie Gottes kleiner Acker, wie das Paradies.“ Doch der Frieden täuscht. Unter der Oberfläche rumort das Verdrängte, Beschwiegene. Darüber reflektiert „Die Hälfte der Stadt“ auf leise, melancholische Weise.
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