Dokumentarfilm | Russland/Deutschland/Tschechien/Lettland/Nordkorea 2015 | 94 Minuten

Regie: Witali Mansky

Ein Jahr lang begleitete der ukrainische Dokumentarfilmer Witali Mansky ein achtjähriges Mädchen aus der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang durch dessen Alltag. Die Dreharbeiten wurden nicht nur streng überwacht, sondern von den Behörden sogar durchgängig inszeniert, was der Regisseur im Off-Kommentar lakonisch-belustigt offenlegt. Heimlich aufgenommene Szenen des verstörenden Films verstärken den Eindruck, dass die permanente Propaganda des Regimes die Persönlichkeit der Menschen nachhaltig deformiert. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
V PAPRSCICH SLUNCE
Produktionsland
Russland/Deutschland/Tschechien/Lettland/Nordkorea
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Vertov.Real.Cinema/Saxonia Ent./Hypermarket Film/MDR/Ceskátelevize
Regie
Witali Mansky
Buch
Witali Mansky
Kamera
Alexandra Iwanowa · Michail Gorobschuk
Musik
Karlis Auzans
Schnitt
Andrej Paperny
Länge
94 Minuten
Kinostart
10.03.2016
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. ein informatives Booklet zum Film.

Verleih DVD
Salzgeber (1.78:1, DD5.1 dt. & korea.)
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Verstörende Bilder aus Nordkorea. Regisseur begleitet ein Mädchen durch den inszenierten Alltag des kommunistischen Regimes

Diskussion
Was für ein großartiger Tag! Gerade hat das Kollektiv in Pjöngjang das Tagessoll um 150 Prozent übererfüllt. Das muss entsprechend gefeiert werden, weshalb die älteste und erfahrenste Kollegin geehrt werden soll. Die habe schließlich den größten Beitrag geleistet. Großer Beifall, kleines Blumen-Präsent und eine kurze Dankesrede. Die verdiente Genossin erhebt sich und gibt den Dank sogleich an die Kolleginnen zurück, verweist aber explizit auf den Anteil des Ingenieurs, ohne dessen Knowhow die Steigerung der Produktivität gar nicht denkbar gewesen wäre. Und überdies sei die Tochter des Ingenieurs just am Tage des Geburtstages von Kim Jong-il zur Jungpionierin geworden. Gratulation! Applaus! Und der kleine Blumenstrauß wird zur Auszeichnung des Vaters dem Ingenieur gleich weitergereicht. Der so Geehrte bedankt sich brav und reicht den Strauß ebenfalls weiter, da er später erneut gebraucht wird. Denn das war erst die Probe einer Szene für den Dokumentarfilm „Im Strahl der Sonne“; beim anschließenden echten Dreh wird das Plansoll dann schon um 200 Prozent übertroffen. Man staunt nicht schlecht über das, was man in „Im Strahl der Sonne“ zu sehen bekommt. Ist es Chuzpe, ist es Aberwitz, ist es die Arroganz der Macht? Oder schlicht ein komplett anderes Verständnis von Realität? Der ukrainische Dokumentarist Witaly Mansky muss dabei zusehen, wie ihm sein Filmprojekt abhandenkommt, weil das die Spielregeln in Nordkorea sind. Eine Operation am offenen Herzen. Auf der anderen Seite erzählt sein Film gerade davon, was ihm stattdessen angeboten bzw. von der Zensur gelassen wird. Eigentlich hatte Mansky, der sich schon immer für totalitäre Gesellschaften interessiert hat, eine Langzeitbeobachtung geplant. Über ein Jahr lang wollte er ein nordkoreanisches Mädchen begleiten, das kurz vor der Aufnahme bei den Jungpionieren steht. Um eine Dreherlaubnis zu bekommen, musste der Dokumentarist ein Drehbuch vorlegen. Schließlich wurde das Projekt unter strengen Auflagen für 75 Drehtage genehmigt. Beim Casting der achtjährigen Protagonistin Zin-mi ist diese mit einer biografischen Familien-Legende ausgestattet, die später willkürlich verändert wird. Aus dem Lehrer-Vater wird ein Ingenieur, aus einer in einer Werkskantine arbeitenden Mutter eine Molkereiangestellte, aus der Wohnung in Bahnhofsnähe eine Prachtwohnung im Vorzeige-Viertel Pjöngjangs. Die Dreharbeiten selbst fanden unter strenger Aufsicht statt, das gedrehte Material unterlag permanenter Kontrolle. Nur durch „Tricks“ gelangen ein paar Aufnahmen, die an der Zensur vorbeigeschmuggelt werden konnten. De facto wurde der Dokumentarist so zum Propagandisten des unverhohlen Bilder kontrollierenden Regimes; Widerstand dagegen konnte Mansky erst in der Postproduktion durch Erklärungen, also mit den Mitteln des Wortes, leisten. Im Off-Kommentar des fertigen Films, der nur auf 45 statt 75 Drehtagen beruht, gibt der Filmemacher seine Erfahrungen im Verlaufe der Dreharbeiten zu Protokoll. Mal lakonisch, mal belustigt. Was bedeutet diese offene Inszenierung von Realität für den Status des Dokumentarischen? Es gibt eine Szene, in der es laut Drehbuch um den Schulweg von Zin-mi gehen soll. Als das Team am Drehort eintrifft, ist bereits „alles vorbereitet“. Offenbar gibt es keine reguläre Bushaltestelle, doch Vater und Mutter begleiten Zin-mi dennoch zum Schulbus. Während die Eltern auf die Abfahrt warten, sieht man im Bildhintergrund eine Straßenszene mit Passanten und fragt sich, wie weit die Inszenierung wohl reichen mag. Gleiches gilt für die Busfahrt zur Schule, die auch für ein paar Impressionen aus dem „Alltag“ in Pjöngjang genutzt wird. Man fragt sich auch, warum Aufnahmen der Stellproben anscheinend möglich waren, wenn es doch darum geht, Fiktion vor der Kamera zu inszenieren. Da die Protagonisten offenbar keine Schauspieler sind, aber dennoch als fiktive Charaktere agieren, wirken die Stellproben immer wieder unfreiwillig komisch, weil ganz offensichtlich vorgefertigte Texte aufgesagt werden, die einem Kind vor laufender Kamera beispielsweise erklären, dass es gerade das sehr gesunde und ausreichend vorhandene Nationalgericht esse. Indem der Filmemacher mittels seines Off-Kommentars die Differenz zwischen dem Realen und dem Inszenierten profiliert, wird zunächst suggeriert, dass auch die Akteure vor der Kamera diese Differenz „leben“. Doch je länger der Film dauert, desto brüchiger erscheint diese Vorstellung von einem Persönlichkeitskern, der sich dem Zugriff des Totalitären zu entziehen vermag. Die Bevölkerung Nordkoreas, so zeigt der Film, lebt unter den Bedingungen eines permanenten Ausnahmezustandes, der durch die Propagandamaschine virulent gehalten wird. Mit unübersehbaren Konsequenzen: die Menschen wirken abwesend und erschöpft, ihre Sprache formelhaft. Wenn der hochdekorierte Veteran in der Schule einen wirren, ausschweifenden, aus Phrasen bestehenden Vortrag über seine Heldentaten im Krieg gegen die Amerikaner hält, fallen den Kindern fast die Augen zu. Kein Wunder, dass die Trainer für die Inszenierung der Wirklichkeit immer auch darauf achten müssen, dass die Akteure vor der Kamera ihre (passenden) Emotionen nicht vergessen: „Lasst es uns fröhlicher machen!“ „Im Strahl der Sonne“ bleibt trotzdem rätselhaft, weil der Zuschauer nur seine eigenen Beurteilungskategorien an das Material anlegen kann. In einer langen Sequenz lassen sich Paare und Familien anlässlich der großen Begonien-Schau fotografieren, einem kulturellen Höhepunkt des nordkoreanischen Jahres, wie mitgeteilt wird. Kaum jemand lächelt, eher wirken die Menschen angespannt, misstrauisch, melancholisch. Hat ihnen denn keiner gesagt, wie sie sich der Kamera präsentieren sollen? Manskys implizite Suche nach der Möglichkeit von Dissidenz läuft in einer Gesellschaft leer, in der es keinerlei Privatsphäre zu geben scheint. Nur einmal geling es dem Filmemacher, die kleine Protagonistin unkontrolliert etwas zu fragen: „Was erwartest Du von deinem Leben?“ Nach ein paar einstudierten Phrasen bricht das Kind in Tränen aus, vergleichbar einem Computerprogramm, das zusammenbricht, wenn es eine bestimmte Information („Du“, „dein Leben“) nicht verarbeiten kann. Ein zutiefst verstörender Film.
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