Zeit des Zorns (1993)

Drama | Italien/Deutschland/Frankreich 1993 | 92 Minuten

Regie: Margarethe von Trotta

Nachdem ihr Ehemann, ein Richter, der die Verbindungen zwischen Mafia und Politik aufzudecken versucht, ermordet wurde, setzt die Frau seine Arbeit fort und kann die Angehörigen von Mafiaopfern ermutigen, die Mauer des Schweigens zu brechen. Ein eindrucksvoller, bedrückender Film über den Verlust von Privatsphäre und ein Appell an Zivilcourage und Solidarität; ohne falsches Pathos erzählt. (Kinotipp der Katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
IL LUNGO SILENZIO
Produktionsland
Italien/Deutschland/Frankreich
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Evento Spettacolo/Union P.N./K.G./Bioskop
Regie
Margarethe von Trotta
Buch
Felice Laudadio
Kamera
Mario Sperduti
Musik
Ennio Morricone
Schnitt
Ugo de Rossi · Nino Baragli
Darsteller
Carla Gravina (Carla Aldrovandi) · Jacques Perrin (Marco Canova) · Alida Valli (Carlas Mutter) · Ottavia Piccolo (Rosa) · Giuliano Montaldo (Tommaso Pesce)
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Politthriller
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IMDb | TMDB

Diskussion
Ein Mann, eine Frau, beide ungefähr 50 Jahre alt, gehen am Meeresstrand spazieren, beide sind vergnügt, fast ausgelassen - da zieht die Kamera auf, und man sieht das Paar von sechs jungen Leibwächtern umgeben, die, Pistolen in den Händen, argwöhnisch zum Land hin Ausschau halten. Schon die erste Sequenz veranschaulicht - meisterlich - das Dilemma, in dem die Hauptpersonen stecken. Marco ist ein Ermittlungsrichter, mit Fällen befaßt, die Verbindungen zwischen der Mafia und herrschenden politischen Kreisen aufdecken, Carla ist seine Frau und Ärztin. Er kann sich durch seine Arbeit vielleicht noch ablenken, der Egoismus der Pflicht betäubt auch ein wenig, ihr bleibt nicht viel übrig, als zu warten, auf seine Rückkehr aus dem Amt, auf den Dienstwagen, der, eskortiert, durch die Stadt jagt, auf das Nahen einer unsichtbar bleibenden Bedrohung. In ihrer Stadtwohnung sind die Fensterläden geschlossen, damit niemand sie beobachte. Kein Schritt vor die Tür ohne das Aufgebot seiner Leibwachen. Jeder Raum, den sie nach längerer Zeit wieder betreten, wird zuvor kontrolliert. Selbst ihr privates Leben muß sich extreme Überwachung gefallen lassen, eingesperrt durch Vorsichtsmaßnahmen in der eigenen Wohnung wie in einer anderen Art Sicherheitstrakt. So belastend dies zumal für Carla sein muß, es kommt keine tiefere Verstimmung zwischen beiden auf. Alltagsnormalität scheint beschränkt auf den Umgang mit wenigen Freunden, Freundinnen, ihrer Mutter. Aber selbst ein harmloser Spaziergang (in der Villa Adriana) wird so aufgenommen, als sei die Kamera ein verborgener, lauernder Beobachter.

Margarethe von Trotta erzählt lange von dieser Ehe zweier "erwachsener" Menschen, die dem außerordentlichen Druck standhalten, in Würde, in gegenseitigem Vertrauen, die auf die Vorzüge des gewöhnlichen Daseins in Anonymität verzichten müssen. Sie weiß, daß er sie nicht belasten will, fordert ihm dennoch ab, eingeweiht zu werden - und wird es in vieles. Als seine Untersuchung ihn dazu zwingt, nach Zürich zu reisen, begleitet Carla ihren Mann zum Flugplatz; ihr Blick verweilt abschiednehmend lange auf ihm. Man bemerkt, wie zart und verletzlich die Gestalt des Mannes ist, das schon weiße Haar, die schmalen Schultern, die leichten Bewegungen des unverdrossen Mutigen, die arglose Zuwendung zum Menschen, der neben ihm geht: Es ist ein Blick der Liebe, der sich nicht von ihm abwenden will. Die lange Einstellung auf einen sich entfernenden Menschen enthüllt auf wunderbare Weise ein tiefes Gefühl. Nach einem retardierenden Moment, der noch Hoffnung verheißt, geschieht das Schreckliche, auf das man schon unterschwellig wartet. Die Wirkung der Todesnachricht auf Carla wird nur lapidar berichtet: sie eilt zum Fernseher, man sieht und hört, was die Ansagerin mitteilt (die Maschine ist auf dem Rückflug in der Luft explodiert), nicht mehr das Gesicht der Zuhörerin. Erst die Begräbnisfeier wird zum zweiten emotionalen Höhepunkt: wieder eine lange Einstellung, das Starren Carlas auf den verschlossenen Sarg, die Kamera wieder rücksichtsvoll, teilnehmend hinter ihr und nahe. Die Musik findet Zeit zu ausgreifender süßbitterer Klage. Ein dritter Höhepunkt - die Verlesung des Testaments: die herzbewegende Danksagung an die Ehefrau, die sein Leben geteilt hat, die liebevolle Ehrbezeichung für ihre Person, die Beteuerung einer Pflichtmoral, die der nun Tote glaubte, nicht verraten zu dürfen. Der Text des Testaments ist authentisch und stammt von Cesare Terranova, einem Richter, der 1979 einem Attentat der Mafia erlag. Es war richtig, dieses außerordentliche Dokument mutiger Humanität in die Geschichte einzuschleusen.

Der zweite Teil: Carla verfällt nicht in endlose Depression, sie gewinnt an Kraft, greift die Arbeit ihres Mannes auf, will den Kampf weilerführen und bringt die Frauen aus den Familien der Ermordeten, Witwen und Töchter, dazu, ihr Schweigen öffentlich zu brechen, gegen Erpressung und Furcht aufzubegehren. Bis ihr die Unterlagen gestohlen werden, die den Prozeß gegen die Dunkelmänner wieder in Gang setzen können, und sie selbst in einer Telefonzelle bei strömendem Regen erschossen wird. Doch ihr Aufruf zur Gegenwehr wird dadurch nicht erstickt. Dennoch ein bitteres Ende, das vor Augen führt, wie lang der Weg ist, der noch vor einem liegt. Der krakenartig umklammernde Feind erscheint nur in Telefonanrufen, in Drohzeichen, in Gestalt des Mörders einmal kurz. Obwohl unsichtbar, entrückt er nicht in mythische Ferne.

Das Verbrechen hat für diesmal die Oberhand behalten, aber - was Frauen auch in Interviews aussprechen - es soll kein Verzeihen geben. Trotta hat einen Film über eine Liebesehe (doch) und einen politischen Film gedreht, der den Abscheu vor dem mörderischen Gangstertum einer höchst unehrenwerten Gesellschaft vertieft und keine fromme Milde im Geiste, keine Versöhnung mit diesen da zuläßt. Der Film weicht auch darin von der bekannten Anti-Mafia-Dramaturgie ab, daß er die Rolle und die Chance der beteiligten Frauen betont. Unter diesem Aspekt erinnert "Zeit des Zorns" an Lina Wertmüllers "Camorra" (fd 25 533). wo auch erkennbar wird, daß das böse Spiel der Mächtigen vor allem ein Spiel der Männer ist. Aus der Perspektive der Frau eines Richters offenbart sich die beklemmende Lage von Menschen noch präziser, die Recht und Gerechtigkeit Geltung verschaffen wollen und dabei selbst zu Gejagten, zu Zielscheiben werden. Spätestens nach den Morden an Falcone und Borsellino sind die standhaften Richter endgültig ins Blickfeld geraten - und der große Anspruch, den die gefährdete Demokratie an ihre Verteidiger stellt.

Das Verhältnis zwischen den "eingeschlossenen" Personen ist, ihrer Situation entsprechend, von Intensität, Aufmerksamkeit, auch verborgener Trauer bestimmt. Nichts wird gleichgültig unter solchen Bedingungen. Weder plakativ noch rhetorisch, sondern genau in der Nuance, deutlich in jedem Ausdruck, jeder Bewegung sind die Darsteller. Margarethe von Trotta ergreift die Möglichkeit, ein Manifest des öffentlichen Widerstands eher erkennbar werden zu lassen, als simpel zu propagieren, sprengt damit jedoch nicht die Fiktion, bettet dies in die Handlung ein. Sie rekonstruiert ein Leben in Angst - und wie sich einige davon weder lähmen noch verderben lassen. Sie erzählt von Treue und Liebe, von der gar nicht einfachen Solidarität zwischen Opfern, von privaten und gesellschaftlichen Tugenden, die sich gerade in der Arbeit für Gerechtigkeit zeigen und bewähren. All dies ohne Knalleffekte, ungelegenes Pathos oder falsche Zungenschläge. Von Trotta ist ein anrührender und aufrührender Film gelungen. Da läßt sich auch davon absehen, daß er nicht immer gut und atmosphärisch sensibel synchronisiert worden ist und die Hintergrundgeräusche aufdringlich laut und dauerhaft zu hören sind, wodurch sie ihre symbolische Funktion verlieren, nämlich zu verdeutlichen, daß die Menschen in der Wohnung überempfindlich auf ungewohnte Laute achten.
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