Drama | Türkei 2016 | 120 Minuten

Regie: Ozan Açiktan

Ein 18-jähriger bosnischer Waise will die Wahrheit über seine Herkunft herausfinden. Seine Suche führt ihn in ein muslimisches Dorf sowie auf einen serbischen Bauernhof, wo der Mann leben soll, der während des Bürgerkriegs seine Mutter vergewaltigt hat. Seine Sehnsucht nach Wahrheit und Zugehörigkeit reißt verdrängte Wunden auf und zwingt zu bitteren Auseinandersetzungen. Ein psychologisch differenziert entwickeltes Drama, das entschieden für die Aufklärung der Kriegsverbrechen plädiert, selbst wenn damit neue Schicksalsschläge verbunden sein sollten. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
ANNEMIN YARASI
Produktionsland
Türkei
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
BKM
Regie
Ozan Açiktan
Buch
Ozan Açiktan · Ozan Güven · Uygar Şirin · Fethi Kantarci · Funda Çetin
Kamera
Bogumil Godfrejow
Musik
Jingle House
Darsteller
Belçim Bilgin (Nerma) · Ozan Güven (Borislav) · Bora Akkaş (Salih) · Meryem Uzerli (Marija) · Okan Yalabik (Mirsad)
Länge
120 Minuten
Kinostart
17.03.2016
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Türkischer Film über die unbewältigte Last des Bosnien-Kriegs und zwei Familienschicksale.

Diskussion
Der 18-jährige Salih kehrt dem Waisenhaus im bosnischen Zenica den Rücken, um nach seiner Familie zu suchen. Dabei legt er unbeabsichtigt die Wunden der Vergangenheit frei, findet das Zuhause, von dem er immer geträumt hat, sorgt mit seiner Anwesenheit aber auch dafür, dass alles in die Brüche geht. Ein türkischer Film über den Bosnien-Krieg, die Last der unbewältigten Vergangenheit und ein Drama über zwei Familienschicksale. Wie es ihm sein Lehrer nahelegte, sucht Salih das bei Tuzla gelegene Dorf Simin Han auf. Hier, wo die serbischen Ortsnamen auf den Straßenschildern geschwärzt sind, leben vorwiegend Muslime, darunter die Familie des Schusters Mirsad. Dessen Mutter nimmt Salih bei der Hand und erklärt ihm, dass er hier unerwünscht ist: als Sohn ihrer Schwiegertochter Nerma, die während des Bosnien-Krieges von serbischen Soldaten vergewaltigt wurde. Damit die Wunden der Vergangenheit nicht wieder aufbrechen, solle er möglichst schnell verschwinden. Die Alte gibt Salih einen Hinweis: der Vergewaltiger, Kommandeur einer Elite-Einheit, heiße Borislav Milić und lebt jetzt in Prijedor, einer Kleinstadt in der serbischen Republik. Mit den Worten „Um zu vergeben, muss man zunächst bestrafen“, verabschiedet sie den ungewollten Sohn. Salih macht sich also auf den Weg nach Prijedor, um dort den Mann zu suchen und zu bestrafen, der sein biologischer Vater und der Peiniger seiner Mutter ist. Nacheinander klappert er die Liste der Verdächtigen ab und heuert dann als Landarbeiter bei demjenigen an, der dem gesuchten Borislav Milić am nächsten kommen könnte: ein Bauer in der Nähe von Prijedor, einem Ort, wo man, so seine Ehefrau Marija zu Salih, „etwas hat gegen Leute wie dich“. Der Muslim Salih befindet sich hier in feindlich gesinnter Umgebung, und doch findet er Anschluss an das Paar, das selbst keine Kinder bekommen kann. „Annemin Yarası“ wurde in Serbien gedreht, mit einem serbisch-türkischen Team. Ozan Güven gibt Borislav als Serben par excellence, oder jedenfalls so, wie man ihn sich seit den späteren Emir Kusturica-Filmen vorstellt: ein rustikaler Lebemann mir dichtem Bart, Schnaps im Blut und wenig Allüren, der weder bei der Arbeit noch bei seinem Verlangen nach Sex lange fackelt und sich immer dann am wohlsten fühlt, wenn es darum geht, seine Nächsten mit direkter Ansprache und reichlich Wortwitz aus der Reserve zu locken. Es bleibt nicht aus, dass Salih sich nach anfänglichem Misstrauen schnell zu Hause fühlt. Er gewinnt auch das Vertrauen der sensiblen Marija, die dem Ankömmling einen Gefallen mit schicksalhaften Folgen erweist: Über das Einwohnermeldeamt kontaktiert sie dessen Mutter Nerma, die nach Prijedor kommt und Borislav als den entlarvt, der er in Salihs Augen gerade nicht ist: ein Kriegsverbrecher und Vergewaltiger. Womit Salihs hoffnungsvoll aufgebautes Dasein in dem leicht chaotischen, liebenswerten Garten seiner serbischen Wahlheimat genauso in sich zusammenstürzt wie das Liebesidyll zwischen Borislav und Marija: auch Menschen, die Lieder haben, können böse sein. Regisseur Ozan Açiktan war bislang vor allem als Werbefilmer und Arrangeur von Blödelkomödien unterwegs. Mit „Annemin Yarası“ (Die Wunde meiner Mutter) präsentiert er jetzt einen Film, der sich sehr ernsthaft mit den Folgen der Geschichte für die Gegenwart auseinandersetzt – und zugleich einen mit hohem Production Values umgesetzten interessanten Psycho-Plot liefert. Im Epilog widmet Açiktan den Film „allen Kindern, die eine glückliche Zukunft nicht einer unglücklichen Vergangenheit opfern möchten.“ Ein unpassendes Schlusswort, denn bis zum bitteren Ende plädiert die Inszenierung dafür, der Wahrheit auf den Grund und gerade nicht den Alten nicht auf den Leim zu gehen, die von der Vergangenheit nichts mehr wissen wollen. Dass beide Varianten mit Leid verbunden sind – hier die Opfer, die nicht über ihre Traumata hinwegkommen, dort die Täter, die aus ihrer Verdrängung gerissen werden –, und dass mit beidem, der Verdrängung wie der Wahrheitsfindung, neue Schicksalsschläge verbunden sind, liegt in der Natur von Krieg und Kriegsverbrechen. Was „Annemin Yarası“ recht eindrücklich am Beispiel seiner beiden auf unterschiedliche Weise unglücklichen Paare ins Bewusstsein rückt, wobei sich die Inszenierung geschickt auf zwischenmenschliche Fallstricke verlässt, die in der Mischung aus Eifersucht und Neugier, Misstrauen und Freundschaft lauern.
Kommentar verfassen

Kommentieren