Dokumentarfilm | Deutschland 2015 | 164 Minuten

Regie: Lutz Dammbeck

Essayistischer Dokumentarfilm, der als weit ausholende Recherche ein unterhaltsam-raffiniertes Puzzle über Strategien der Re-Education in der Nachkriegszeit entwirft, wobei sich die Sphären von Erziehung und Unterhaltung spielerisch miteinander verknüpfen und bis zu Rousseau und der Französischen Revolution zurückverfolgt werden. Lutz Dammbeck knüpft damit an seinen Film „Das Netz“ (2004) an und entfaltet ein augenzwinkernd postmodernes Spiel über Denkmöglichkeiten der Sozialtechnologie, wobei nebenbei auch ein Hohelied auf Archive und die Bibliophilie angestimmt wird. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Lutz Dammbeck Filmprod./arte/rbb/WDR
Regie
Lutz Dammbeck
Buch
Lutz Dammbeck
Kamera
Eberhard Geick · Börres Weiffenbach · Volker Tittel · István Imreh
Musik
J.U. Lensing
Schnitt
Margot Neubert-Maric
Länge
164 Minuten
Kinostart
21.04.2016
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Die DVD enthält als Bonus u.a. das Radio-Feature "Messer und Uhr" (Audio: 51 Min.), eine Halluzination von Lutz Dammbeck.

Verleih DVD
absolut (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt.)
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Lutz Dammbeck geht spielisch-postmodern den Verbindungen zwischen Psychiatrie, Fernsehshows und der Re-Education der jungen Bundesrepublik nach.

Diskussion
In einer heiteren Talkshow-Runde schildert Joachim Fuchsberger 2005 Anne Will und den anderen Gästen von seinen Anfängen als Showmaster. Zur allgemeinen Erheiterung werden Ausschnitte aus der Show „Nur nicht nervös werden“ vom Anfang der 1960er-Jahre gezeigt. Das, so Fuchsberger, sei die deutsche Version des Klassikers „Beat the Clock“ gewesen – einer Show, die aus Spielen bestand, „die aus der amerikanischen Psychiatrie kamen“ (Fuchsberger). Als Rudi Carrell dann fragt: „Wieviel Patienten haben da zugeschaut?“, antwortet Fuchsberger lachend: „Eine Nation! Eine verrückte Nation! Eine psychisch gestörte Nation!“ Fernsehunterhaltung als Therapie? Der Filmemacher Lutz Dammbeck horcht in „Overgames“ auf und geht dieser Spur nach, versucht (bis zum Schluss vergeblich), Joachim Fuchsberger zu sprechen. Anfang 2008 besuchte Dammbeck ein Festival im Berliner HAU zum Thema „Re-Education der Deutschen nach 1945“ und wurde dabei auf die Studie „Is Germany Incurable?“ des amerikanischen Neurologen und Psychiaters Richard M. Brickner aufmerksam. Als er erkennt, dass Brickner ins Umfeld der Anthropologin Margaret Mead gehört, ist Dammbecks Interesse endgültig geweckt, denn jetzt wird eine Konstellation sichtbar, die ihn bereits in „Das Netz“ (fd 36 856) umgetrieben hatte. Der Filmemacher recherchiert die Geschichte der Game-Shows, geht den Spuren in Psychiatrie und Anthropologie nach und stellt schließlich einen Zusammenhang zur Idee der permanenten Revolution her, die den Menschen von der Idee der Gleichheit überzeugen will. Stichworte: Spiel, Erziehung, Unterhaltung. „Overgames“ erzählt dabei gleichzeitig von der Recherche und von deren Resultaten. Man sieht Dammbeck im Gespräch mit Produzenten von Gameshows und man sieht ihn bei der Recherche in Bibliotheken. „Overgames“ ist ein bibliophiler Dokumentarfilm, der bis zur Französischen Revolution zurückführt, deren „Kult des höchsten Wesens“- Performance von Robespierre persönlich inszeniert wurde. Was allerdings kein Publikumserfolg war: Der Showmaster wurde wenige Tage später hingerichtet. Stichworte: Geschichte der Aufklärung, Erziehungsutopien, Fernsehgeschichte. Ob Joachim Fuchsberger ahnte, in welches Wespennest er stieß, als er, der erfahrene Entertainer, seine Talkshow-Pointe platzierte? Am Rande von Dammbecks groß angelegter Recherche begegnet man einem Ausschnitt aus Kafkas „Der Verschollene“, dem Film „Hitlerjunge Quex“ als Analyse-Gegenstand von Gregory Bateson und schließlich der Studentenrevolte von 1968 sowie der RAF als Lackmustest für das Experiment, die totalitäre deutsche Gesellschaft für ein demokratisches System zu gewinnen. Nachkriegs-Westdeutschland wäre so als Großlabor einer umfassenden Re-Education zu denken. Dammbeck selbst nennt seine Recherche ein „Spiel“, bei dem sich verschiedene Spuren zu einer Erzählung „verfestigten“, von der nie ganz klar wird, wie tragfähig ein Bezug von der Denkmöglichkeit zur Realität ausfällt. Der Filmtitel ist ein schönes Wortspiel, denn der Film beschäftigt sich gleichsam auf der Meta-Ebene mit Game Shows als einer Facette von Sozialtherapie und übermalt gleichzeitig unterschiedliche Diskurse, bis sich ein neues Bild, besser: eine fragile Atmosphäre ergibt. Am Ende stehen deshalb Fragen: „Die Fundstücke in den Archiven und Akten einer transatlantischen Elite illustrieren nur Blaupausen, eine Welt der Vorstellungen, der Selbstdeutungen und Denkmöglichkeiten. Was davon aber wirkte, was kam zum Einsatz? Und, was war und ist die wirkliche Welt – jenseits der theoretischen Konstrukte, Postulate und Simulationen?“ Und – fast noch bedeutsamer – die Frage: Ist das Projekt der permanenten Revolution noch aktuell? Oder wurde der Prozess damit beendet, dass der Kapitalismus seine eigenen Pathologien scheinbar zu entschärfen verstanden hat? Eine Verschwörungstheorie? Ein Spiel-Film? Schon eingangs erzählt Dammbeck vom Erfolg der Margaret-Mead-Studie „Coming of Age in Samoa“, einem Bestseller der Anthropologie, der gewissermaßen ein von der Wissenschaft bestelltes Ergebnis über die kulturelle Formbarkeit des Menschen zeitnah anbot und dann auch kollektiv wirkte. Spätere Überprüfungen der Studie hätten gezeigt, dass es sich dabei wohl eher um Poesie gehandelt habe, die sich als Wissenschaft camouflierte. Ihre Wirkung habe das aber nicht hintertrieben. Ob man Ähnliches einst auch von Dammbecks intellektuellem und intellektuell anregendem Spiel „Overgames“ sagen wird?
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