Drama | Deutschland 2014 | 97 Minuten

Regie: Nicolette Krebitz

Als eine apathisch vor sich hinlebende junge Frau in einem Park in Halle-Neustadt einem Wolf begegnet, verändert sich ihre Existenz radikal. Sie verliebt sich, fängt das Tier ein und nimmt es mit in ihre Wohnung. Bald bröckeln die Grenzen zwischen Jägerin und Beute, Mensch und Tier. Überzeugend erzählt der Film von der „Tierwerdung“ als Befreiung aus zivilisatorischen Zwängen, wobei die Verwilderung nicht als Kontrollverlust, sondern als Emanzipationsgewinn ausbuchstabiert wird. Dabei verlässt der utopische Entwurf nie den Boden der Realität, skizziert vielmehr ein ebenso offenes wie anspielungsreiches Szenario, das in der beeindruckend furchtlosen Hauptdarstellerin und der kongenialen Kameraarbeit seine Basis findet. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Heimatfilm/WDR/arte
Regie
Nicolette Krebitz
Buch
Nicolette Krebitz
Kamera
Reinhold Vorschneider
Schnitt
Bettina Böhler
Darsteller
Lilith Stangenberg (Ania) · Georg Friedrich (Boris) · Silke Bodenbender (Kim) · Saskia Rosendahl (Jenny) · Kotti Yun (Myong)
Länge
97 Minuten
Kinostart
14.04.2016
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar der Regisseurin und der Darstellerin Lilith Stangenberg.

Verleih DVD
EuroVideo (16:9, 1.85:1, DD5.1 dt.)
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Nicolette Krebitz etabliert sich mit der Geschichte über die "Tierwerdung" einer IT-Frau (glänzend gespielt von Lilith Stangenberg) als singuläre Regie-Größe im deutschen Filmschaffen.

Diskussion
Ania ist ein einsamer Wolf, aber das Wilde schläft noch in ihr. Apathisch lebt und arbeitet sie in Halle-Neustadt; das anonyme Wohnsilo und ihr IT-Job nehmen sich in ihrer Tristheit nicht viel. Wenn sich die junge Frau durch die farbentsättigte urbane Landschaft bewegt, verschwimmt sie nahezu mit der Umgebung: blassblauer Anorak vor Beton- und Wolkengrau. Eine Tarnung vielleicht, so wie der anfängliche sozialrealistische Anstrich des Films. Allein Anias Hobby, das Schießen, weist in eine verhaltensauffälligere Richtung. Ihr Chef Boris scheint das in ihr schlummernde Tier immerhin unbewusst anzusprechen: Er zitiert sie wie einen Hund in sein Büro, indem er einen Tennisball gegen die Wand donnert. Im Park begegnet Ania einem Wolf. Es ist ein „coup de foudre“ der anderen Art. Ania muss ihn unbedingt wiedersehen, lockt ihn mit Wolfsgeheul, einem schönen Stück von der Fleischtheke und Kaninchen, bevor sie ihn erfolgreich einfängt – mit einer an ein tribalistisches Ritual erinnernden Lappjagd. Ania sperrt den Wolf in der Hochhauswohnung ein. Die Grenzen zwischen Jägerin und Beute, Mensch und Tier bröckeln dabei im wahrsten Sinne des Wortes: als die Wand zwischen Wolf-Gefängnis und Restwohnung durchbrochen wird, ist das Tier im Menschen entlassen. Ania fällt aus der bürgerlichen Ordnung, leckt sich die Hand, fällt über Essensreste her und geht ihren sexuellen Begierden ungehemmt nach. Mit den rohen Instinkten tritt auch mehr Farbe und Textur in den Film, anstelle von Entrücktheit und Apathie tritt physischer Kontakt. Ania und der Wolf verbindet bald mehr als eine reine Wohngemeinschaftsbeziehung. Am Thesenfilm und seinen Beschränkungen vorbei eröffnet Nicolette Krebitz in „Wild“ einen gleichermaßen offenen wie referenziellen Erzählraum. Diskursives über das Mensch-Tier-Verhältnis und aus dem Horrorgenre bekannten Tieranverwandlungen hallen hier ebenso wieder wie reale Transgressionen – etwa die von Philip Warnell in „Ming of Harlem“ (2014) filmisch aufbereitete Geschichte über eine Wohngemeinschaft zwischen Mensch und Tiger in einem New Yorker Sozialwohnungsbau. Die Inszenierung ist dabei wenig an Trennschärfe interessiert, sie hält sich die Zugänge offen, bewegt sich mal in die eine, mal in die andere Richtung, verlässt aber nie den Boden der Realität. Mitunter droht die Erzählung ein wenig auszufransen. Die Fährten sind zahlreich: vom Verlust des Großvaters bis zur Billiglohnarbeit in einer Textilfabrik. „Wild“ erzählt von der utopischen, aber ganz und gar greifbaren Tierwerdung als Befreiung aus dem Korsett gesellschaftlicher Vereinbarungen, als Zivilisationsbruch. Anias Verwilderung ist indes kein Verlust, etwa von Kontrolle oder Autonomie, sondern im Gegenteil: ein Emanzipationsgewinn. Glücklicherweise propagiert der Film keinen entfesselten Naturwerdungskitsch. Die radikalen Gesten wirken deshalb immer sehr gesetzt, fast ein wenig domestiziert, aber auch nicht ganz frei von Kalkül. So spekuliert der Film etwa recht steil mit Zoophilie, um das sexuelle Begehren dann aber doch in Form eines buchstäblich verrutschten Lap Dances auf den weniger belasteten Schauplatz eines Treppengeländers umzuleiten. Auch das Abjekte, ob Menstruationsblut, Sperma oder Kot, bleibt immer im Rahmen des bürgerlichen Geschmacks. Die Defäkation auf einem Büroschreibtisch – nahezu elegant. Am überzeugendsten ist der Film dort, wo er seine Posen ablegt. Wenn er darauf vertraut, dass das Verhältnis von Mensch und Wolf tragfähig genug ist – und es ist tragfähig genug, erst recht mit einer so phänomenalen, furchtlosen Schauspielerin wie Lilith Stangenberg. In der sehr schönen Schlusssequenz hat sich auch die Erzählung von jedem Ballast befreit. Ania und der Wolf streifen wie Komplizen durch eine magisch aussehende Landschaft, hügelig, verschlungen, undeutsch irgendwie – ein ehemaliges Truppenübungsgelände? Sie sind nun ganz auf Augenhöhe.
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