Animation | Deutschland/Schweden 2012 | 76 Minuten

Regie: Helena Ahonen

Um ihr Comic-Buch „Bosnian Flat Dog“ zu bewerben, reisen die schwedischen Zeichner Max Andersson, Lars Ajunnesson und Helena Ahonen quer durchs ehemalige Jugoslawien, begleitet von einer zombiehaften Tito-Puppe. Der experimentelle Film dokumentiert die Reise in einer collagenhaften Bildsprache aus grobkörnigen, betont primitiven Schwarz-weiß-Animationen, Interviews und skurrilen Happenings. Die originelle Machart bewahrt die provokative Rekapitulation eines dunklen Kapitels südosteuropäischer Gegenwart vor Klamauk und billigem Trash und zeichnet über den regionalen Katastrophen eine universelle Auflösungstendenz nach. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
TITO ON ICE
Produktionsland
Deutschland/Schweden
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Nail Films
Regie
Helena Ahonen · Max Andersson
Buch
Max Andersson
Kamera
Helena Ahonen · Max Andersson
Musik
Gnjevni Crv · Delfini · Elektricni Orgazam · Idoli · Indexi
Schnitt
Max Andersson
Länge
76 Minuten
Kinostart
21.04.2016
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Animation | Mockumentary
Externe Links
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Hintersinnig-experimenteller Film, der den Bürgerkrieg in Jugoslawien und seine gesellschaftlichen Verwerfungen rekapituliert.

Diskussion
Als im Jahr 1991 die „Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien“ kollabierte, war Deutschland mit sich selbst beschäftigt. Es fiel leicht, den in der südosteuropäischen Nachbarschaft eskalierenden Bürgerkrieg zu ignorieren. Dabei waren die aus der deutschen Wiedervereinigung resultierenden Probleme im Vergleich zum Zerfall des Vielvölkerstaats fast beschämend gering. Erst als 1999 die NATO mit Beteiligung Deutschlands (ausgerechnet unter einer Rot-Grünen-Koalition) Serbien mit Luftangriffen überzog und dabei auch Wohngebiete in Belgrad ins Visier nahm, rückte der Balkan stärker in die mediale Wahrnehmung. Mit weiteren 15 Jahren Abstand wird nun allmählich deutlicher, wie eng verzahnt die historischen Vorgänge in Wahrheit waren und dies in ihren Folgen und Auswirkungen noch immer sind. Denn das jugoslawische Desaster ist Teil der europäischen und globalen Machtpolitik. Das völlige Versagen eines koordinierten Krisenmanagements wirft bis heute viele Fragen auf. Nach dem Tod des Staatschefs Marschall Josip Broz Tito am 4. Mai 1980 begann die südslawische Volksrepublik, die sich auf ihrem „Dritten Weg“ so lange zwischen den Fronten des Kalten Krieges behauptete, auseinanderzudriften. Die bis dahin mehr oder weniger erfolgreich kaschierten ethnischen, ideologischen und wirtschaftlichen Verwerfungen zwischen den Landesteilen und Ethnien brachen auf. Es ist daher leicht nachvollziehbar, dass Tito von vielen Ex-Jugoslawen noch immer gottgleich verehrt wird. Man erinnert sich an seine Regentschaft als die eines Goldenen Zeitalters, in dem Wohlstand, weitgehende Reise- und Pressefreiheit und die berühmte wirtschaftliche „Selbstverwaltung“ in den Betrieben für einen komfortablen Lebenswandel sorgten. Verdrängt wird dabei, dass die sich spätestens ab 1991 zur Katastrophe zuspitzenden Konflikte schon lange vorher angelegt waren. Wenn die beiden schwedischen Filmemacher Max Andersson und Helena Ahonen nun die Überfigur Tito buchstäblich aus dem Keller der Geschichte holen, um sie in die Gegenwart der jugoslawischen Nachfolgestaaten zu entführen, dann inszenieren sie damit eine verlässliche Provokation. Diese hätte leicht daneben gehen können. Zum Glück aber öffnet sich durch die originelle Machart des Films ein weites Themenfeld, und die vernachlässigte Jugoslawien-Thematik erfährt eine angemessene Behandlung. Dabei ist die filmische Konstellation nicht unbedingt neu. Der serbische Regisseur Želimir Žilnik ließ 1993 für „Tito po drugi put među Srbima“ (Tito zum zweiten Mal unter den Serben) einen Schauspieler als Tito-Wiedergänger in Gala-Uniform durch die Straßen von Belgrad wandeln und beobachtete mit der Kamera die Reaktionen der Passanten. Vinko Brešan dreht 1999 den Spielfilm „Marschall Titos Geist“ (fd 34 870), bei dem der auferstandene Staatsgründer auf einer Adria-Insel bei zahlreichen Genossen Hoffnungen auf die Rückkehr des Sozialismus nährt. „Tito on Ice“ geht ganz anders vor. Max Andersson (Jahrgang 1962) wiederholt eine Reise, die er 1999 schon einmal unternommen hat. Damals war er als Comic-Zeichner zu einer Konferenz in die slowenische Hauptstadt Ljubljana eingeladen. Er stieß dort wie auch in den angrenzenden Regionen auf ein lebendiges subkulturelles Netzwerk, freundete sich mit Künstlern an und nahm an Ausstellungen teil. In seiner Begleitung befand sich dabei stets eine zombiehaft wirkende Tito-Puppe, die er in Schweden zusammengebastelt hatte. Während der Reise erfolgte dann die Bombardierung Serbiens durch die NATO, was bei Anderssons Gastgebern sehr gegenwärtige Erinnerungen an die sozialistische Zeit freisetzte. Der 2012 fertiggestellte Film verbindet die verschiedenen Zeitschichten durch Interviews und einer weiteren filmischen Ebene. Betont primitiv wirkende Super-8-Animationen aus Pappmaché, Klingeldraht und Wäscheklammern verleihen dem Gesehenen und Erzählten eine kontrapunktische Kommentierung. Mit den archaischen, mehr und mehr ausfasernden Arrangements findet gleichsam eine „Balkanisierung“ der filmischen Form statt, die dem Zustand des behandelten Gegenstands entspricht, gleichzeitig aber auch einen universellen Auflösungsprozess beschreibt. So wird Anderssons Reise zur Metapher für einen geopolitischen wie auch individualpsychologischen Prozess über das Gefühl, „in verschiedene Richtungen verschwunden zu sein“ (Max Andersson).
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