Dokumentarfilm | Israel/Schweden/Deutschland/Niederlande 2015 | 100 Minuten

Regie: Tomer Heymann

Außergewöhnlicher Dokumentarfilm über den israelischen Choreografen Ohad Naharin und seine „Batsheva Dance Company“. Die von Naharin geschaffene Bewegungssprache „Gaga“ hat den Modern Dance revolutioniert; dabei geht es um das gemeinsame Erarbeiten eines freien Bewegungsraums, in dem es Platz für Leidenschaft, eruptive Energien, situative Extreme und die Lust des Moments gibt. Der Film kombiniert Biografisches mit hinreißenden Tanzsequenzen, wobei die fließende Kamera die tänzerischen Bewegungen unprätentiös ins Bild setzt. Getragen von großer Nähe und Bewunderung zum Protagonisten, teilt er Naharins trockenen Humor und verdichtet sich im Spiegel von dessen zerrissenem Leben zu einem Stück israelischer Zeitgeschichte. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
MR. GAGA
Produktionsland
Israel/Schweden/Deutschland/Niederlande
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Heymann Brothers Films/ZDF/arte/Avrotros/SVT
Regie
Tomer Heymann
Buch
Tomer Heymann
Kamera
Itai Raziel
Musik
Ishai Adar
Schnitt
Alon Greenberg · Ido Mochrik · Ron Omer
Länge
100 Minuten
Kinostart
12.05.2016
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
farbfilm (16:9, 1.78:1, DD5.1 hebr. & engl.)
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Dokumentarfilm über den israelischen Choreografen Ohad Naharin und seine "Batsheva Dance Company"

Diskussion
Dass Tanz eine Sprache ist, wird nicht immer klar: Nicht auf der Bühne und schon gar nicht im Film. „Mr. Gaga“ von Tomer Heymann ist hingegen ein Dokumentarfilm, der diese Sprache perfekt in Bilder, in Bewegungsbilder übersetzt. Es beginnt mit einem Fall, der Länge nach rücklings, auf den harten Tanzboden. Ohad Naharin, der israelische Choreograf, erklärt einer jungen Tänzerin den richtigen Sturz: „Du schützt dich zu sehr!“ Sie fällt und fällt und es kracht. Der Tanz, das gemeinsame Tanzen erfordert Hingabe, Leidenschaft und viel, viel Übung. Die Inszenierung wiederholt in ihrer kongenialen intermedialen Verschmelzung eine choreografische Vision der charismatischen Protagonisten: Die Verdichtung vieler Körper zu einem – individuellen, freien, zwanglosen – Körper, der immer wieder ausbrechen darf und soll. Gelegentlich fühlt sich das dann so an und sieht auch so aus wie eine moderne, individualistische Variante der großartigen, psychedelischen Musicalfilme von Busby Berkeley aus den 1930er-Jahren. Gaga hört sich ein bisschen an wie Dada; der kleine Wahnsinn steckt schon im Wort. Mit seiner Compagnie, der Batsheva Dance Company in Tel Aviv, bei der Naharin 1974 seine eigene Ausbildung begann, hat der Choreograf „Gaga“ als eine neue Bewegungssprache entwickelt. Bekannte Muster werden aufgebrochen, Grenzen überschritten: Tanz wird nicht als Korsett oder komplexes Regelwerk begriffen, sondern als Befreiung, als Interaktion auf vielen Ebenen, als unmittelbare Ausdrucksform. Dada ohne Chaos. Jeder sollte tanzen, findet Naharin. Gemeinsam mit Naharin reist Heymann durch dessen Biografie: Ein herzzerreißender Mythos erzählt von den Anfängen des Tanzens in Naharins Leben. Es folgt der Militärdienst bei der Unterhaltungscompagnie. Was er als junger Mann während des Jom-Kippur-Krieges 1973 erlebt, vergisst er nie mehr; man spürt dies in all seinen Choreografien. Gleichzeitig stellt „Mr. Gaga“ eine allzu biografische Lesart humorvoll in Frage – das wäre doch zu simpel. Naharin beginnt spät mit dem Tanzen, sehr spät für einen Tänzer. Nach einigen Lehrjahren in New York, wo er zum ersten Mal der Liebe begegnet, kehrt das Naturtalent nach Israel zurück. Dort beginnt Naharin, den zeitgenössischen Tanz zu revolutionieren und zu politisieren. Heymann kombiniert tolles Archivmaterial, das bis in die Kindheit im Kibbuz zurückdatiert, mit wirklich spektakulären Tanzaufnahmen. Er beobachtet Naharin in seinem Alltag als Lehrer und Choreograf. Naharin führt als persönlicher Off-Erzähler durch den Film. Über acht Jahre hat Heymann an „Mr. Gaga“ gearbeitet. Die große Nähe zu seinem Protagonisten ist spürbar, auch die Bewunderung. Offenkundig teilen die beiden auch den gleichen trockenen, irgendwie spitzbübischen Humor. Der Film sagt zugleich viel über Israel. Naharin ist ein zutiefst politischer Choreograf, seine Kunst kann Krisen auslösen. Naharins Biografie ist eine typisch-untypische israelische Lebensgeschichte, mit Brüchen, Traumata und Verletzungen, mit Flucht und Rückkehr, mit Zweifeln und großer Zerrissenheit. Seine Stücke sprechen deutlich über widerstreitende, tragische Grenzerfahrungen. Am Ende läuft Naharin eine Treppe hoch, das Laufen fällt ihm nach einer Verletzung noch schwer. Plötzlich fällt er. Das kann er wirklich gut.
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