Dokumentarfilm | Israel/Deutschland 2015 | 59 Minuten

Regie: Mor Kaplansky

Die israelische Dokumentaristin Mor Kaplansky will die Geschichte des legendären Berliner Cafés Nagler rekonstruieren, das in der Weimarer Zeit ihrer Familie gehörte und von dem ihre Großmutter bis heute begeistert erzählt. Bei der Recherche vor Ort offenbart sich ihr die Diskrepanz zwischen den verklärenden Erinnerungen und der historischen Wirklichkeit: Das Café war gar kein Treffpunkt von Künstlern und Intellektuellen, sondern ein gewöhnliches Quartiercafé am Moritzplatz in Kreuzberg. Statt darüber zu verzweifeln, vollzieht der Film verschmitzt eine Wende und setzt humorvolle Anekdoten als beschwingte Hommage an die glamourösen 1920er-Jahre in Szene. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
CAFÉ NAGLER
Produktionsland
Israel/Deutschland
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Atzmor Prod./mdr
Regie
Mor Kaplansky · Yariv Barel
Buch
Mor Kaplansky
Kamera
Yariv Barel
Musik
Eran Weitz
Schnitt
Arik Lahav-Leibovitz · Idit Aloni
Länge
59 Minuten
Kinostart
09.06.2016
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. ein Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen.

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD5.1 hebr. & engl. & dt.)
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Erfrischende Dokumentation über einen Berliner Szenetreff der 1920er-Jahre

Diskussion
„Das war der Moment, in dem ich begriff, dass Erinnerungen kostbarer sind als sämtliche Dokumente, Daten und historische Fakten“: Mor Kaplansky hat ihren ersten, fast „langen“, 59-minütigen Film konsequent aus der Ich-Perspektive gedreht. Mor kommt aus Israel. Sie ist Jahrgang 1980, lebt zusammen mit Variv Barel, ihrem Co-Regisseur und Kameramann, den sie während der Arbeit an „Café Nagler“ heiratete, in Tel Aviv. Das Paar hat eine Tochter, Noga, die sitzt am Ende, bei der ersten Sichtung des Films in familiären Kreisen, auf Mors Armen. „Café Nagler“ ist also radikal im Privaten verortet, ein Film, der ein Liebesbrief der Enkelin an ihre Großmutter sein will. Tatsächlich nimmt „Café Nagler“ seinen Anfang bei Kaplanskys Oma, Naomi Kaplansky, einer in Israel bekannten Dokumentarfilmerin, die lange Jahre fürs Fernsehen gearbeitet hat. Naomi Kaplansky ist heute weit über 80 Jahre alt; sie ist die Tochter von Clara Rosa und Ignaz Nagler, deutschen Juden, die 1925 nach Palästina auswanderten. Die Naglers haben von 1910 an am Moritzplatz in Berlin ein Café betrieben. Ein berühmtes Lokal, wie es in der Familie immer hieß, in dem Künstler und Intelligenz verkehrten. Zu speziellen Gelegenheiten holt Naomi Kaplansky noch heute das mitgebrachte Geschirr und Besteck aus dem Schrank und gerät über Goldrand und Prägung ins Schwärmen: Die Goldenen 1920er-Jahre in Berlin, und die Naglers mitten drin. Irgendwann, erzählt Mor, habe sie sich zu fragen begonnen, wieso Naomi über dieses berühmte Café, dessen Fotos sich in den Familienalben finden, nicht selbst einen Film gedreht habe. Dann machte sie sich, zahllose Anekdoten im Kopf und Fotos im Koffer, selbst auf nach Berlin, um diesen Film zu drehen, den in ihrer Familie irgendjemand drehen musste. In Berlin überfiel sie dann allerdings Ernüchterung. Das Café am Moritzplatz steht nicht mehr, das Haus, in dem Clara Rosa und Ignatz Nagler wohnten, wurde im Krieg zerstört und 1946 aus dem Stadtplan gestrichen. Bei zahllosen Besuchen in Archiven, Bibliotheken und Museen findet Mor zwar Spuren des „Café Nagler“, in Filmen wie „Menschen am Sonntag“ (1930), „Berlin – Die Sinfonie der Grossstadt“ (1927), „Tagebuch einer Verlorenen“ (1929), „Berlin-Alexanderplatz – Die Geschichte Franz Biberkopfs“ (1931) auch alte Berliner Kaffeehaus-Szenen. Doch Aufnahmen aus dem Café Nagler lassen sich nirgendwo auftreiben. Ebensowenig Zeitzeugen. Selbst der alte Herr, der in einer der schönsten Szenen der inzwischen nach Berlin nachgereisten Naomi erzählt, wie seine Familie damals immer ins Nagler gegangen sei und Rosa ihn als Kind in die Arme genommen habe, war, als die Naglers Berlin verließen, erst ein paar Monate alt. Je deutlicher wird, dass das „Café Nagler“ wohl ein gewöhnliches Quartiercafé war und der Moritzplatz nicht zu Berlins Nobelbezirken gehört, sondern sich in Kreuzberg befindet, das schon immer ein Einwanderer-Viertel war, desto größer wird Kaplanskys Ratlosigkeit. Bis zu jenem denkwürdigen Tag, an dem ihr Onkel in Gegenwart von Naomi seine Version vom Café Nagler als einem Quartierlokal auftischt, in dessen oberer Etage Herren und Damen gewissen Bedürfnissen nachkamen. Daraufhin vollziehen Kaplansky und Barel eine 180-Grad-Wende. Fahren nochmals nach Berlin und lassen Historiker, Liebhaber alter Musik, Transvestiten, Diseusen, also Menschen, die heute leben, aber die Goldenen Zwanziger in ihren Köpfen und ihrem Blut haben, für ihren „fiktiven Dokumentarfilm“ wahre Geschichten erzählen, die im Café Nagler gespielt haben. So entstehen vor laufender Kamera Anekdoten, welche die Würze des zwischenmenschlichen Seins, der Kitt der Familiengeschichten und auch der Erzähl-Enden sind. Damit verweist dieser liebevoll-verschmitzte, humorvoll-kleine Film weit über das Private hinaus ins Kollektive, die gemeinsame Erinnerung an die glamourösen 1920er-Jahre, in denen es in Berlin über 5000 Cafés gab, darunter am Moritzplatz eines mit Namen „Café Nagler“, in dem vielleicht dann und wann eine berühmte Persönlichkeit vorbeischaute, Gugelhupf aß oder einen Absinth trank.
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