Song of My Mother

Drama | Türkei/Frankreich/Deutschland 2014 | 103 Minuten

Regie: Erol Mintas

Ein kurdischstämmiger Lehrer aus Istanbul kümmert sich aufopfernd um seine demente Mutter, während der politische Druck gegen kurdische Aktivisten steigt und seine Arbeit an einem neuen Buch stagniert. Insbesondere forscht er nach einem alten Lied und dessen Sänger, von dem seine Mutter träumt, und das eine Brücke ins Dorf seiner Kindheit schlägt. Das vielschichtige Spielfilmdebüt spürt am Beispiel der Mutter-Sohn-Beziehung den Verwerfungen nach, die Vertreibung und politische Unterdrückung im Verhältnis der Generationen hinterlassen. Ein Film voller nachwirkender Kinobilder, inszeniert mit großer emotionaler Zärtlichkeit, aber auch mit protokollarischer Strenge. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
KLAMA DAYIKA MIN
Produktionsland
Türkei/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Mintas Film/Arizona Prod./Mîtosfilm
Regie
Erol Mintas
Buch
Erol Mintas
Kamera
George Chiper-Lillemark
Musik
Basar Under
Schnitt
Alexandru Radu
Darsteller
Feyyaz Duman (Ali) · Zübeyde Ronahi (Nigar) · Nesrin Cavadzade (Zeynep) · Ferit Kaya (Kommissar) · Cüneyt Yalaz (Okul Müdürü)
Länge
103 Minuten
Kinostart
09.06.2016
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Vielschichtiges türkisches Drama

Diskussion
Wenn die Kinder erwachsen und die Eltern langsam vergesslich werden, gerät das Zusammensein von Alt und Jung trotz aller Bemühungen mitunter recht konfliktreich. Kommen dann noch quälende Identitätsfragen oder traumatische Lebenserfahrungen hinzu, endet das Ganze in einem beständigen emotionalen Auf und Ab. Das Spielfilmdebüt von Erol Mîntaş beschreibt am Beispiel einer kurdischen Mutter-Sohn-Beziehung, wie Vertreibungserfahrungen nachhaltig das Gleichgewicht zwischen den Generationen zerstören. Ein spröde inszenierter Film voller Zärtlichkeit, der weit über seinen politischen Kontext hinausgeht. Die Eröffnungssequenz zeigt den Lehrer einer Dorfschule im Osten der Türkei, der seinen Schülern das Gedicht von der Krähe beibringt, die sich als Pfau verkleidet, um in der Gesellschaft der Aufschneider nicht als arm und anders aufzufallen. Der Film spielt im Jahre 1992. Das Land ist von den Kämpfen zwischen kurdischen Milizen und der türkischen Armee gezeichnet; der „Tiefe Staat“ – ein Netzwerk der Geheimpolizei – verhaftet politisch und ethnisch unliebsame Aktivisten, ein großer Teil von ihnen kommt nie zurück. So auch der Lehrer, der, noch bevor er das Gedicht zu Ende bringen kann, von drei vermummten Männern entführt wird. Das letzte, was man von ihm sieht, ist die Autofahrt durch eine bildstark inszenierte Landschaft. Mehr als 20 Jahre später erinnert nur noch ein Porträtbild an ihn. Sein Sohn Ali arbeitet ebenfalls als Lehrer, unterrichtet Türkisch und Kurdisch. Die Familie lebt in Istanbul, Mutter Nigar ist pflegebedürftig und zieht aus ihrer geräumigen Innenstadt-Wohnung zu ihrem Sohn in eines der neuen Appartement-Hochhäuser am Stadtrand. Mit dem Abschied von den Nachbarn und der Anonymität kommt Langeweile auf, und mit der Langeweile der Gedanke, wieder zurück „ins Dorf“ zu wollen. Über „das Dorf“ erfährt man zwar nichts, bekommt im Laufe des Films aber mit, dass offensichtlich alle Bewohner, die früher dort gelebt haben, inzwischen in Istanbul wohnen. Eines jener kurdischen Dörfer, die in den 1990er-Jahren vom Militär entvölkert und wahrscheinlich zerstört wurden, um den Peschmerga Rückzugsräume zu nehmen und die Bevölkerung mit willkürlichen Gewaltmaßnahmen in die Enge zu treiben. Mîntaş verzichtet bewusst darauf, diese Zusammenhänge zu erklären. So entwickelt sich „Song of My Mother“ zunächst zu einem Film, in dem ein junger Mann damit klarkommen muss, dass seine Mutter pflegebedürftig wird. Typisch für eine Demenzkranke im anfänglichen Stadium, wechseln ihre Launen, werden Erinnerungen als Gegenwart erlebt, wird der Ton störrisch. Ali aber fühlt sich zwischen seinem Beruf als Lehrer, den Ansprüchen seiner schwangeren Freundin Zeynep, der Arbeit an seinem neuen Buchprojekt und dem politischen Druck gegen kurdische Aktivisten zerdrückt. Gleichzeitig wiederholt sich die Erfahrung von Vertreibung und Exil auf neue Weise: Mit der fortschreitenden Gentrifizierung werden diejenigen, die ihr Dorf und ihre Nachbarschaft schon einmal verloren haben, zur erneuten Umsiedlung gezwungen. Von Zeit zu Zeit wird auch die Schule, in der Ali Kurdisch unterrichtet, von der Polizei durchsucht, um die Betreiber einzuschüchtern. Weit schwieriger als der politische Druck ist die Sehnsucht nach der Heimat zu ertragen. Wenn die Mutter Nigar vom Balkon des Hochhauses schaut, sieht sie nicht das aufstrebende Megalopolis, die Glas- und Stahlbetonlandschaften des neuen Istanbul, sondern ein weites Tal im Osten der Türkei, durch das zwei Männer zu einem entfernten Dorf reiten. Sie imaginiert einen Dengbêj namens Seydoyê Silo, einen kurdischen Erzähler, der mittels Sprechgesang Dorfgeschichten erzählt, eine Mischung aus Chronist und Unterhaltungskünstler. Ali forscht auf Flohmärkten und bei Heimatforschern vergeblich nach diesem Sänger und dem Lied seiner Mutter, das wohl nur in ihrem Kopf existiert – das Lied von der verlorenen Heimat, aber auch der persönlichen Identität, die hinter den Launen der Geschichte und der fortschreitenden Demenz allmählich erlischt. „Song of My Mother“ erzählt in einer Mischung aus protokollarischer Strenge und emotionaler Zärtlichkeit, wie sich Alis Mutter allmählich aus dem Staub macht. Und wie Ali zwischen Zuneigung, Fürsorgepflicht und dem Entnervtsein angesichts der Launen seiner Mutter aufgerieben wird. Ein persönlicher, beeindruckend vielschichtiger und doch kompakter Film, der nicht nur politisch ist, weil er ein kurdisches Schicksal in der gegenwärtigen Türkei erzählt, sondern auch, weil er auf die Sollbruchstellen einer beschleunigten Gesellschaft aufmerksam macht, in der für eine Balance zwischen den Generationen keine Zeit mehr bleibt. Und der dafür (Kino-)Bilder findet, die im Gedächtnis bleiben, etwa wenn Ali mit seiner alten Mutter auf dem Sozius seiner Vespa durch die Stadtlandschaften Istanbuls fährt, oder wie Nigar über den Busbahnhof irrt, um einen Bus in das Dorf zu finden, das nur noch in ihrer Einbildung existiert.
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