Bella e perduta - Eine Reise durch Italien

Dokumentarfilm | Italien/Frankreich 2015 | 87 Minuten

Regie: Pietro Marcello

Eine der Commedia dell’arte entlehnte Narrenfigur will in Kampanien den letzten Willen eines Hirten erfüllen. Es gilt, einen jungen, für die Mozzarella-Produktion wertlosen Wasserbüffel zu retten und mit ihm Richtung Norden zu ziehen. Aus der Sicht des Büffels stimmt die Mischung aus Dokumentation und lose strukturierter Fiktion eine unakademische Klage über den Umgang mit Natur und Geschöpf, Kulturverlust und Geschichtsvergessenheit an. In der Tradition von Pier Paolo Pasolini greift das melancholische Filmgedicht traditionelle italienische Volksweisen auf und reichert sie mit Momenten des Märchens, des Reisefilms und des dokumentarischen Porträts an. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
BELLA E PERDUTA
Produktionsland
Italien/Frankreich
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Avventurosa/Rai Cinema
Regie
Pietro Marcello
Buch
Maurizio Braucci · Pietro Marcello
Kamera
Salvatore Landi · Pietro Marcello
Musik
Marco Messina · Sacha Ricci
Schnitt
Sara Fgaier
Darsteller
Tommaso Cestrone (Tommaso Cestrone) · Sergio Vitolo (Pulcinella) · Gesuino Pittalis (Gesuino)
Länge
87 Minuten
Kinostart
14.07.2016
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Momente des Märchens, des Reisefilms und des dokumentarischen Porträts verbinden sich in der harlekinschen Fabel von Pietro Marcello zu einem fabulierfreudigen Unikum.

Diskussion
„Wenn es nach mir ginge, wäre ich auf dem Mond geboren oder auf einem anderen Planeten.“ Die Stimme, die wehmütig aus dem Off spricht, gehört einem Büffelkalb namens Sarchiapone. Das Tier grast auf dem Grundstück eines heruntergekommenen Palasts im Süden Italiens, in Caserta, Kampanien. Eine Gegend, die zum Inbegriff für Verfall und Verschmutzung wurde, für rauchende Müllberge und Mafia-Aktivitäten. Sarchiapone reflektiert über den Zustand der Welt, er klagt und träumt und lässt uns teilhaben an seiner Weltsicht. Mitunter wechselt die Kamera sogar in die Büffelsubjektive. Mit dem schwankenden Schritt des Tieres gerät auch das Bild in eine Schaukelbewegung. Einmal hat der Büffel sogar Tränen in den Augen. Zum Weinen ist allerdings nicht nur sein individuelles Schicksal; für die Mozzarella-Produktion sind die männlichen Tiere wertlos, sie gelten als Abfall und werden meist schon nach wenigen Tagen getötet. Zum Weinen ist auch die generelle Rücksichtslosigkeit gegenüber Natur und Tier, die Geschichtsvergessenheit und der Kulturverlust. Zu den Figuren von „Bella e perduta“ gehören neben dem Palast und dem Büffel der Hirte Tommaso Cestrone und Pulcinella, eine aus der Commedia del’Arte bekannte Narrenfigur mit Buckel und langer Vogelnase. Pietro Marcello, der schon in „La bocca del lupo“ (fd 40 103) Dokumentarisches und Inszeniertes zu einer poetisch assoziativen Montage verknüpfte, webt diese aus Volkskunst und Realität stammenden Motive zu einer losen Geschichte zusammen. Darin rettet der Hirte den Büffel, und nach seinem Tod nimmt ihn Pulcinella mit in den Norden. Am Ende aber erwartet ihn trotzdem die Schlachtbank. Die Klage über den Niedergang der Region hat aber auch ein utopisches Moment. Verkörpert wird es in Tommaso, dem Hirten, der alles hinter sich ließ, um sich dem verlassenen Palast in Caserta, der Geburtsstadt von Pietro Marcello, zu widmen. Das aus der Bourbonenzeit stammende Gebäude diente der Camorra als Versteck und als Lager für Waffenschmuggel, bis es zu einer großen Müllhalde herunterkam. Als selbsternannter „Volontär“ beaufsichtigte Tommaso über Jahre unentgeltlich die Reggia di Carditello und bewahrte sie so vor dem totalen Verfall. Der Büffel sagt, er sei ein „guter Herr“, die Leute in der Gegend nennen ihn den „Engel von Carditello“. Während der Dreharbeiten verstarb Tommaso überraschend – und der Büffel Sarchiapone wurde zum Protagonisten, durch dessen Augen der Film auf die Welt blickt. „Bella e perduta“ ist kein Film, dem es um die Aufklärung von Zusammenhängen geht. Überhaupt ist es Pietro Marcello nicht um Klarheit zu tun, auch nicht in filmsprachlicher bzw. generischer Hinsicht. In seinem hybriden Werk, das nicht ganz so konsequent und schroff ausfällt wie „La bocca del lupo“, verbindet er Momente des Märchens, des Reisefilms und des dokumentarischen Porträts; er mischt 16mm und Video, Archivmaterial (von Demonstrationen aus der jüngeren Zeit) mit stilisierten Arrangements. Das Ergebnis ist ein von Melancholie gefärbtes Gedicht über die Schönheit und den Ruin, dessen sanftmütiger Klang und lyrische Übersteigerung nur gelegentlich den politischen (und klassenbewussten) Grundton verdecken. Dabei steht der Filmemacher wie kaum ein anderer für ein unakademisches italienisches Kino in der Folge Pasolinis – und für den Versuch einer Neuaktivierung traditioneller Volksweisen. Wie der Hirte Tommaso macht Marcello das ganz im Kleinen: Er kümmert sich um die Wahrung von lokaler Geschichte und Erinnerung.
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