Der Ost-Komplex - Die Geschichte des Mario Röllig

Dokumentarfilm | Deutschland 2016 | 94 Minuten

Regie: Jochen Hick

Ein junger Mann wagte 1987 die Flucht aus der DDR, um zu seinem Geliebten im Westen zu gelangen. Er wurde erwischt und landete im Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen. Als ihn die Bundesregierung später freikaufte, war der einstige Freund längst ein Familienvater, der nichts mehr von ihm wissen wollte. Heute führt der Mann Besucher durch seine ehemalige Zelle, hält Vorträge über den Unrechtsstaat der DDR. Der souverän inszenierte und klug montierte Dokumentarfilm verbindet auf bisweilen recht humorvolle Art eine tragische Biografie mit ernüchternden Blicken auf die geballte Ignoranz und hemmungslose Ostalgie. Ein desillusionierender Kommentar zu 25 Jahre Wiedervereinigung. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Galeria Alaska Prod./rbb
Regie
Jochen Hick
Buch
Jochen Hick
Kamera
Jochen Hick · Nicolai Zörn
Schnitt
Thomas Keller
Länge
94 Minuten
Kinostart
10.11.2016
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Ein desillusionierender Kommentar zu 25 Jahre Wiedervereinigung

Diskussion
1985 verliebte sich der damals 17-jährige DDR-Bürger Mario Röllig während eines Urlaubs in Ungarn in einen mehr als doppelt so alten Mann, der seine Gefühle erwiderte. Beide Männer lebten in Berlin, allerdings in den getrennten Hälften der Stadt. Während der Ältere im Westen zuhause war, wohnte der Teenager im Osten. Fortan trafen sie sich sporadisch in irgendwelchen DDR-Hotels. Auch wegen dieser Liebe versucht Röllig 1987, über Ungarn in den Westen zu gelangen. Er wurde aber an der Grenze gefasst und landete im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Ein Jahr später kaufte ihn die Bundesregierung frei. Röllig wähnte sich endlich am Ziel. Doch seine große Liebe entpuppte sich als zweifacher Familienvater und war keineswegs bereit, seine bürgerliche Fassade für den Liebhaber aufzugeben. Die Wiedervereinigung fügte dieser herben Enttäuschung dann eine weitere hinzu. Denn bis heute empfindet es Röllig als schreiendes Unrecht, dass die meisten DDR-Funktionäre und Stasi-Mitarbeiter mehr oder weniger straffrei davonkamen. Schlimmer noch: Vielen Tätern geht es besser als ihren Opfern. Als Röllig einen seiner Peiniger aus dem Gefängnis 1999 auf der Straße traf, erlitt er einen psychischen Zusammenbruch, da der jegliches Fehlverhalten von sich wies. Röllig wollte sich daraufhin das Leben nehmen. Seine tragische Biografie böte allein schon genügend Stoff für einen spannenden Dokumentarfilm, zumal Röllig heute keineswegs in Resignation erstarrt ist, sondern als humorvoll-reflektierter Mensch erscheint. Was den Film von Jochen Hick allerdings weit über ein privates Porträt hinaushebt, ist der Umstand, dass Röllig seine Geschichte öffentlich lebt. Er führt Besucher durch die heutige Gedenkstätte Hohenschönhausen und reist durch die Lande, um Schülern und interessierten Gruppen vom Unrechtsstaat DDR zu erzählen. Diese Begegnungen sind für den Film das Salz in der Suppe. Wenn ihm Schüler im Osten erklären, dass zuhause nie über die DDR gesprochen wird, er in Diskussionsveranstaltungen mit Parteigängern der Linkspartei aneinandergerät oder bei seinen Führungen als Nestbeschmutzer beschimpft wird, eröffnen sich subtile Einblicke in ein noch immer geteiltes Land. Ein Riss, der auch durch Rölligs Familie geht. Seine Eltern, einst überzeugte Parteigenossen, die sich noch immer mit seiner Homosexualität schwertun, haben sich mit der Wende notgedrungen abgefunden. Das hält den Vater aber nicht davon ab, im Fotoalbum stolz die erstaunliche Palette seiner West-Autos vorzuführen. Überhaupt erfasst die Kamera hier immer wieder skurrile Momente am Rande des Geschehens. Etwa, wenn zwei ehemalige DDR-Grenzer in der Tristesse eines Schützenheimes ihre Ostalgie zu Protokoll geben, dabei aber Basecaps und T-Shirts mit US-Logos tragen. Bei aller Sympathie wahrt der Regisseur aber auch Distanz zum Protagonisten und fragt ihn aus dem Off auch nach den Widersprüchen in seinem Leben. Ein überaus differenzierter, klug montierter und dabei bisweilen auch humorvoller Dokumentarfilm, der in seiner Verbindung von privat und öffentlich überaus sinnfällige Einblicke in eine noch immer geteilte Republik eröffnet. Über Pegida und AfD-Erfolge im Osten wundert man sich nach „Der Ost-Komplex“ ein Stück weit weniger.
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