Der die Zeichen liest

Drama | Russland 2016 | 118 Minuten

Regie: Kirill Serebrennikow

Ein russischer Gymnasiast liest die Bibel und nimmt sie wörtlich: Er boykottiert den Schwimmunterricht, lehnt Sexualkunde und die Evolutionslehre ab und verwandelt sich immer mehr in einen fanatischen Eiferer, der auch vor Mord nicht zurückschreckt. Nur eine junge Biologielehrerin bietet ihm die Stirn, während ihre Kolleginnen in postkommunistischer Depression verharren. Die wortgetreue, visuell außergewöhnliche Adaption eines Theaterstücks streift psychologische oder soziale Deutungen der religiösen Radikalisierung nur am Rand. Vielmehr fokussiert die Inszenierung religionskritisch auf der Bibel als Quelle von Aggression und Hass, wobei die antisemitische Zuspitzung auch als Bankrott-Erklärung der liberalen Aufklärung gelesen werden kann. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
UCHENIK
Produktionsland
Russland
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Hype Film
Regie
Kirill Serebrennikow
Buch
Kirill Serebrennikow
Kamera
Wladislaw Opeljants
Musik
Ilja Demutsky
Schnitt
Juri Karich
Darsteller
Petr Skwortsow (Veniamin Juschin) · Wiktoria Isakowa (Elena Krasnowa) · Alexander Gortschilin (Grigori Zaitsew) · Julia Aug (Inga Juschina) · Alexandra Rewenko (Lidija Tkachewa)
Länge
118 Minuten
Kinostart
19.01.2017
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Lehrstück über christlichen Fundamentalismus

Diskussion
Eigentlich müsste dieses religionskritische Drama „Der die Bibel liest“ heißen. Denn bei jeder Gelegenheit zieht der ganz in existenzialistisches Schwarz gekleidete Protagonist Benjamin ein zerfleddertes Exemplar der Bibel aus der Hosentasche und blättert darin mit der Versiertheit eines Juristen auf der Suche nach einem passenden Zitat, mit dem er sein Gegenüber rhetorisch zu Boden strecken kann. Der russische Gymnasiast – auf den der vielschichtigere Originaltitel „Uchenik“ (Schüler) anspielt – ist ein (post-)pubertärer Eiferer, der sein christlich-fundamentalistisches Weltbild mit einer erschreckenden Sammlung martialischer Bibelverse ausstaffiert, in denen es um Zucht und Strafe, Ausmerzen oder die Blutsühne geht. Anfangs stachelt nur der Schwimmunterricht seinen Widerstand an, weil die Mitschülerinnen nicht „anständig“ bekleidet sind; das verletze seine religiösen Gefühle, erklärt er seiner verblüfften Mutter. Doch als eine junge Biologielehrerin Möhren austeilt, um den Umgang mit Kondomen zu üben, reißt er sich unter Protest die Kleider vom Leib. Und als sie über die Evolution sprechen will, erscheint er vorsorglich gleich im Affenkostüm. Seinen plakativen Aktionen haftet nichts Spielerisches an. Statt Fantasie oder kreativen Widerstand verströmen sie vielmehr eine fanatische, zunehmend auch diktatorisch-apokalyptische Aura. Die Versuche des Popen, ihn für die orthodoxe Kirche zu gewinnen, konterkariert er mit beißendem Hohn, weil er für den Glauben nicht leben, sondern für ihn sterben will. Doch als es bei seiner Identifikation als jesuanischer Gottesknecht ausgerechnet mit der Wundertätigkeit hapert und das verkürzte Bein seines „Jüngers“ partout nicht wachsen will, gerät der selbstgezimmerte Religionswahn unter wachsenden Druck. Und verlangt bald nach einem Ventil. Der visuell beeindruckende Film des russischen Independent-Regisseurs Kirill Serebrennikov fußt auf dem Theaterstück „Märtyrer“ des deutschen Dramatikers Marius von Mayenburg (geb. 1972). Dessen geschliffene Dialoge werden verblüffend texttreu, aber unter einer spezifisch „russischen“ Perspektive adaptiert. Die Schwächen der Vorlage schlagen dabei auch in der Verfilmung durch, die keine irgendwie geartete „Erklärung“ des jugendlichen Fundamentalismus anstrebt, sondern auf eine exemplarisch-groteske, in Ansätzen vielleicht auch parabelhafte Exposition eines ultrakonservativen Christentums hinaus will. Naheliegende Bezugspunkte, etwa die verunglückte Abwehr sexueller Avancen durch eine Mitschülerin oder den homosexuellen „Jünger“, werden zwar angedeutet, aber nicht ausgelotet. Auch wird der anti-intellektuelle Furor einer „wortwörtlichen“ Bibellektüre, die Sätze wahllos aus ihrem erzählerischen Kontext reißt, nicht weiter reflektiert, sondern in hanebüchenen Debatten über die mangelnde Wissenschaftlichkeit biblischer Naturerklärungen eher sogar noch bekräftigt. Worauf es Mayenburg und auch Serebrennikov ankommt, ist das erschreckende Resultat dieser Lektüre, in der die Bibel als eine Quelle unerschöpflicher Aggressionen erscheint, als ein Buch voller Hass und barbarischer Gewalt. Der Rekurs auf „heilige“ Schriften leistet darüber hinaus scheinbar einer grundsätzlichen Unterwerfung Vorschub, die mit Zwang und Gehorsam, Drohung und Vergeltung, aber auch mit Macht und Herrschaft verbunden ist. Die antisemitische Spitze, in der Benjamins bizarrer Kreuzzug gegen die Moderne schließlich mündet, wenn die Biologielehrerin als „Jüdin“ von allen Seiten als Sündenbock verantwortlich gemacht wird, ist nicht historisch, sondern sehr aktuell gedacht: Serebrennikov akzentuiert geschickt das Vakuum der postkommunistischen Gesellschaft in Gestalt eines desillusionierten Lehrerinnen-Kollegiums, das in seiner lethargischen Melancholie der fundamentalistischen Revolte nichts entgegenzusetzen hat. Mit den psychedelischen Metal-Klängen des Laibach-Songs „God is God“ dräut am Ende deshalb weniger das pop-kulturelle Armageddon als vielmehr die hässliche Wiederkehr des Antisemitismus – als Symptom autoritärer Erstarrung, aber auch als Bankrotterklärung liberaler Aufklärung.
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