Die schönen Tage von Aranjuez

Drama | Deutschland/Frankreich/Portugal 2016 | 98 Minuten

Regie: Wim Wenders

Eine Frau und ein Mann verbringen einen idyllischen Sommertag mit langen Gesprächen in einem aus der Zeit wie der äußeren Wirklichkeit gefallenen Garten. Wim Wenders adaptiert Peter Handkes Zwei-Personen-Bühnenstück als einen eleganten Fluss aus Reden und Gegenreden, bei dem der Inhalt der Gespräche oft unwichtiger erscheint als der pure Akt des Sprechens. Dank der visuell betörenden Ausformung wird der Film zum Schöpfungsakt, bei dem man zusieht und zuhört, wie Gedanken Gestalt annehmen und Literatur sowie Film entstehen. Dabei bricht die Inszenierung die Anordnung immer wieder mit delikater Raffinesse und oft auch sanfter Ironie zu einem ergebnisoffenen, gleichwohl subtilen Spiel mit Fiktion und Fantasie. (Auch O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LES BEAUX JOURS D'ARANJUEZ
Produktionsland
Deutschland/Frankreich/Portugal
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Neue Road Movies/Alfama Films
Regie
Wim Wenders
Buch
Wim Wenders
Kamera
Benoît Debie
Schnitt
Beatrice Babin
Darsteller
Reda Kateb (Der Mann) · Sophie Semin (Die Frau) · Jens Harzer (Der Schriftsteller) · Nick Cave (Nick Cave) · Peter Handke (Gärtner)
Länge
98 Minuten
Kinostart
26.01.2017
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Heimkino

Die BD Edition enthält eine Audiodeskription für Sehbehinderte.

Verleih DVD
Warner/NFP (16:9, 1.85:1, DD5.1 dt./frz.)
Verleih Blu-ray
Warner/NFP (16:9, 1.85:1, dts-HDMA dt./frz.)
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Wie entsteht Literatur? Eine entspannt-offene Peter-Handke-Fantasie von Wim Wenders

Diskussion
Im Jahr 1963 hatten die 20-jährige Barbra Streisand und die 41-jährige Judy Garland einen phänomenalen gemeinsamen Gesangsauftritt im Fernsehen. Gemeinsam? Sich gegenseitig anhimmelnd, sang Barbra Streisand in getragenem Tempo „Happy Days Are Here Again“, und Judy Garland fügte in die Pausen der Liedzeilen eine entschleunigte Fassung ihres Musical-Hits „Get Happy“ ein. So sangen sie einvernehmlich mit-, aber auch gegeneinander, als harmonische Rivalinnen, die doch nur an einigen wenigen Gesangsstellen zueinander finden. Ganz ähnlich verhalten sich über weite Passagen „der Mann“ und „die Frau“ in „Die schönen Tage von Aranjuez“. Da sitzen sie die überwiegende Zeit des Films an einem Gartentisch und reden miteinander. Miteinander? Oft scheint der Inhalt ihrer Gespräche unwichtiger als der pure Akt des Sprechens selbst. Es gibt Rede und Gegenrede, man redet aneinander vorbei; knappe Fragen bewirken Antworten, die wie Impulse für ein (vermeintlich) spontanes Erinnern fungieren, das in einem geheimnisvollen Rhythmus pulsiert, sich dem Betrachter aber oft verschließt. Auch wenn es einer klaren Verabredung folgt: „Wer macht den Anfang?“ „Du. So war es gedacht.“ Wim Wenders verfilmt Peter Handkes Sommerdialog, ein Zwei-Personen-Bühnenstück, entstanden 2012. Der Mann und die Frau reden, ringen mit Worten, umkreisen sich in einem Tanz mit Worten. „Und wieder ein Sommer. Und wieder ein schöner Sommertag“, beginnt Handke, was weniger nach Regieanweisung als nach epischem Erzählen klingt. Bis diese Sätze bei Wenders auftauchen, passiert visuell bereits sehr viel. Wenders legt sich fest, wie er das Stück, „die Welt“ erfassen will, gibt seine Lesart preis. Während des Vorspanns hört man Schritte, dann das Anwerfen eines Projektors. Mit einer Aufblende folgen bestechende Ansichten eines frühmorgendlichen, komplett menschenleeren Paris. Man hört den Song „You Keep Me Hanging On“, das Gezwitscher von Vögeln, dann geht es hinaus aus der Stadt, über die Peripherie in einen waldartigen Park, zu einem Haus zwischen Rosen, hinein durch die offene Tür, während leise Musik erklingt, aus einer warm leuchtenden Wurlitzer-Jukebox. Dann: eine altmodische Schreibmaschine, neben ihr auf dem Schreibtisch ein Miniaturmodell von zwei Stühlen und einem Tisch, darauf ein riesengroß wirkender Apfel. Und dann: ein Mann, Wenders zaubert ihn herbei, erfindet ihn. Einen Schriftsteller, einen Geschichtenerfinder, der seinerseits Szenarien und Figuren zum Leben erweckt, indem er Buchstaben zu Papier bringt. Eine Garten, eine Frau, eine Terrasse, ein Mann, „wie außerhalb der Zeit“. Der Film als Schöpfungsakt, während dem man zusieht und zuhört, wie Literatur entsteht, wie etwas Gestalt annimmt, also auch Film wird. Und tatsächlich: Der Raum ist ja plastisch, in ihm flirrt es nur so vor Natur und Licht, er ist selbst konstituierender Teil des Erzählens. Eines Bild-Ton-Gedichts. Die Außenwelt? Sie stört: „Zeitgeschehen! Lass uns außen vor!“ Man kennt dieses Desinteresse Handkes an der Welt. Bei ihm geht es eher ums Grundsätzliche, um Sehnsucht, Begehren, die Liebe, durch die man eine Zeit lang göttlich bleiben kann – so hätten Handke und Wenders auch ihre beiden Engel in „Der Himmel über Berlin“ (fd 26 452) sprechen lassen können. Immer wenn es allzu aufdringlich poetisch wird, bricht Wenders die Situation mit delikater Raffinesse, oft auch mit sanfter Ironie. Dann schlägt die Imaginationskraft des Autors Purzelbäume: Während er in die Küche geht, lacht er über seine eben erst ersonnenen Dialoge, während ihm der Mann und Frau ihrerseits interessiert zuschauen. Und urplötzlich, mitten im Raum, sitzt Nick Cave am Klavier und singt „Into My Arms“: Er glaube nicht an einen Gott, der eingreift und reguliert, er glaube auch nicht an die Existenz von Engel, aber an die Liebe. Womit Cave, Wenders und Handke so eng zusammenrücken wie Barbra Streisand und Judy Garland. „Nicht jede Fiktion ist bloße Fiktion“, heißt es bei Handke. „Fiktion? Phantasie.“ Und doch, auch wenn es die Frau und der Mann nicht wahrhaben, nicht zulassen wollen: Die Außenwelt dringt in die Fantasie ein, ansonsten müsste sie willentlich vermieden werden. Was aber sind das für lärmende Katastrophen-Klänge zum Ende hin? Stehen sie mit der Menschenleere im Paris des Filmbeginns im Zusammenhang? In Schillers „Don Carlos“ hieß es ja, dass „die schönen Tage von Aranjuez“ nun zu Ende seien, und: „Wir sind vergebens hier gewesen.“ Die Fantasie des Zuschauers will nicht still stehen, auch der Betrachter will unentwegt Zusammenhänge herstellen, Fäden verknüpfen, Sinn schaffen, sich Beruhigen durch Verstehen: eine Materie des Verlangens. Und so gerät er ganz wunderbar in die Fänge von Wim Wenders, der selten in einem Film offener und spielerischer, mutiger und entspannter war. Und der damit gewiss angreifbarer denn je ist: Man muss diesen Lesarten nicht folgen, kann das alles auch als pure Zeitverschwendung abtun. Oder wie es einmal die Frau sagt: „Es ist kein Tag zum Rätselraten.“
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