Dokumentarfilm | Portugal/Japan/Schweiz 2016 | 112 Minuten

Regie: Cláudia Varejão

Auf der japanischen Halbinsel Izu leben noch immer Frauen, die ohne Sauerstoffflaschen auf den Meeresgrund tauchen, um dort Muscheln, Algen und Meerestiere zu sammeln. Doch die 2000 Jahre alte Tradition ist vom Aussterben bedroht. Ruhig und mit eindringlichen Bildern beobachtet der meditative Dokumentarfilm drei Frauen aus drei Generationen in einem kleinen Fischerdorf bei ihrer Arbeit unter Wasser, aber auch in ihrem Privatleben. Eine intensive teilnehmende Beobachtung der drei Taucherinnen, ihrer Familien und ihres sozialen Umfeldes. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
AMA-SAN
Produktionsland
Portugal/Japan/Schweiz
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Terratreme Filmes/Mira Film/Flying Pillow Films/SRF
Regie
Cláudia Varejão
Buch
Cláudia Varejão
Kamera
Cláudia Varejão
Schnitt
Cláudia Varejão · João Braz
Länge
112 Minuten
Kinostart
03.10.2019
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Intensive teilnehmende Beobachtung dreier japanischer Taucherinnen, die in der Tradition ihrer Vorfahren vor der Küste der Halbinsel Izu auf dem Meeresgrund Muscheln und Meerestiere sammeln.

Diskussion

Langsam tuckert ein kleiner Fischkutter aufs offene Meer hinaus. Sieben Frauen schlüpfen in ihre schwarzen Neopren-Anzüge und ziehen sich weiße Kopftücher über. Am Steuerrad steht ein alter Mann. Die Frauen geben ihm detaillierte Anweisungen, wo sie ins Wasser wollen, denn sie kennen das Meer und seine Bewohner ganz genau. Die japanischen Ama-San (Frauen des Meeres) sind Taucherinnen, die ohne Sauerstoffgeräte Meeresfrüchte und Muscheln aus der Tiefe holen. Eine Tradition, die schon mehr als 2000 Jahre alt ist.

In dem kleinen Fischerdorf Wagu auf der Halbinsel Izu, einem abgelegenen Ort an der japanischen Pazifikküste, leben noch etwa 50 Ama-San. Der Film begleitet drei in ihrem Alltag. Matsumi, Mayumi und Masumi stammen aus drei Generationen; zwischen der Jüngsten und der Ältesten liegen 40 Jahre. Der Film beginnt mit ihrem Familienleben und Bildern ihrer Freizeit: „Heute arbeiten wir nicht!“, sagt eine der Frauen fröhlich. Die Kinder spielen, die Mutter bereitet die Mahlzeit zu, im Hintergrund läuft der Fernseher.

Ein stilles Schweben

Die Arbeit ist den Frauen wichtig, aber nicht das Wichtigste: erst nach 20 Filmminuten fahren sie aufs Meer hinaus. Wunderschöne stille, lange Einstellungen zeigen die Arbeit der Frauen unter Wasser. Von oben dringt das Sonnenlicht in die blaue Welt unter dem Meeresspiegel auf den schwarz-braunen Grund. Dazwischen schweben die Taucherinnen. Die Luft in den Lungen muss ausreichen, um die Abalone-Muscheln vom Felsen abzuschneiden oder Seeigel und kleine Meerestiere zu greifen und dann auch wieder nach oben zu schwimmen. Bis zu vier Minuten dauern die Tauchgänge.

Neben der Arbeit nehmen die gemeinsamen Aktivitäten der Frauen einen großen Raum ein, das Kochen am offenen Feuer, Essen und Trinken, Karaoke mit sentimentalen Liedern von der Liebe und dem Meer oder das Gelächter auf dem Schiff, wenn es die Jüngste, trotz Hilfe der Älteren, nicht schafft, sich das traditionelle Kopftuch anzulegen.

Es gibt aber immer wieder auch Momente der Stille, wenn eine alte Frau ihre Futon-Matratze ausbreitet oder eine andere vor dem Hausaltar betet. Den japanischen Mythen zufolge, erklärt eine, entstehe das Meer aus den Tränen der Götter; das Gebet gehöre daher zum Alltag der Taucherinnen.

Eine Insel in der Zeit

In ihren wiederkehrenden Alltagsritualen und Arbeitsschritten wirken die Frauen ruhig und selbstsicher. Gesprochen wird über Alltägliches, etwa wie viele Muscheln und Meerestiere gefangen wurden oder was der Besuch beim Hals-Nasen-Ohrenarzt ergeben hat, denn auf das empfindliche Gehör müssen die Taucherinnen wegen des kalten Wassers besonders achtgeben.

Manchmal wirkt diese Welt der Ama-San wie eine einsame Insel, in der die Zeit anders und ruhiger vergeht; das moderne Japan dringt nur über das Fernsehprogramm und die Werbespots herein oder durch die entgleisten Spielzeug-Schnellzüge der Kinder.

„Unter Wasser gibt es keinen Ton. Dafür sieht man viele Dinge. Zwischen den Felsen existiert eine fantastische Welt. Es braucht Mut, um sie zu betrachten“, erzählt eine der Taucherinnen. Auch „Ama-San“ geleitet in eine unbekannte und fantastische Welt. Der Film der portugiesischen Regisseurin Cláudia Varejão überzeugt durch seinen ruhigen, entspannten, fast meditativen Rhythmus. Die Inszenierung ist nicht auf spektakuläre Unterwasseraufnahmen aus und erzählt auch keine mythischen Geschichten vom Kampf ums Dasein im gefährlichen Ozean; genauso wenig wird eine Bilanz über einen vom Aussterben bedrohten, jahrhundertealten Beruf gezogen.

Virtuos zwischen den Sphären

„Ama-San“ ist vielmehr eine intensive teilnehmende Beobachtung des Alltags der drei Taucherinnen, ihrer Familien und ihres sozialen Umfeldes. Am beeindruckendsten sind dabei die Natürlichkeit und die Selbstverständlichkeit, mit der die Frauen und ihre Familien sich selbst darstellen. Über die ruhige Bildgestaltung werden Alltag und Arbeit zusammengefügt: Das kühle blaue Licht unter Wasser kontrastiert mit dem warmen braun-gelben Licht der Innenräume; die Frauen bewegen sich virtuos zwischen beiden Sphären.

„Ama-San“ ordnet nicht ein, liefert keine Daten, keine Erklärungen und keine Zukunftsprognosen. Stattdessen führt er in eine unbekannte Welt und zeigt den Alltag starker Frauen, die nichts mit dem weit verbreiteten Bild devoter japanischer Frauen zu tun haben.

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