Dokumentarfilm | Deutschland 2016 | 71 (TV 60) Minuten

Regie: Asli Özarslan

Die 26-jährige Leyla Imret, in Bremen aufgewachsene Tochter eines toten PKK-Kommandeurs, wurde 2014 zur Bürgermeisterin der anatolischen Stadt Cizre gewählt und kehrte mit großen Plänen in ihre Geburtsstadt im Südosten der Türkei zurück. Dann aber brachen die Kämpfe erneut aus, die Stadt wurde zweimal vom türkischen Militär belagert und schwer beschädigt, Imret als Terroristin angeklagt. Der unter schwierigen Bedingungen entstandene Dokumentarfilm zeichnet ein fragmentarisches Porträt der jungen Politikerin, wobei sich protokollarische Beobachtungen und persönliche Nähe zur bedrückenden Innensicht eines brachialen Militärkonflikts verdichten. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Essence Film/SWR/Filmakademie Baden-Württemberg
Regie
Asli Özarslan
Buch
Asli Özarslan
Kamera
Carina Neubohn
Schnitt
Ana Branea
Länge
71 (TV 60) Minuten
Kinostart
29.06.2017
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Porträt der 31-jährigen Deutsch-Kurdin Leyla Imret, die 2014 zur Bürgermeisterin der südostanatolischen Stadt Cizre gewählt wurde

Diskussion
„Dil Leyla“ beginnt mit Archivaufnahmen aus dem Jahr 1993 aus Cizre. Damals galt die 100.000 Einwohner zählende Stadt nahe des türkisch-syrisch-irakischen Dreiländerecks als PKK-Hochburg. Videoaufnahmen zeigen Panzer türkischer Sonderpolizeieinheiten, die das kurdische Neujahrsfest Newroz mit Gewalt auflösen. Menschen werden von Schützenpanzern in die Hauseingänge gedrängt, Frauen und Männer zu Boden gestoßen und gefangengenommen. Am Ende fallen Schüsse. Zwölf Jahre später schien ein Frieden im so genannten Kurdenkonflikt zum Greifen nah. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 zogen 80 Abgeordnete der pro-kurdischen HDP in die Abgeordnetenkammer in Ankara ein. In der Stadt Cizre eroberte die erst 26-jährige Leyla Imret mit 81 Prozent der Stimmen den Bürgermeisterposten; die in Deutschland aufgewachsene Frau war als Kandidatin einer linken Partei angetreten, die einen humanistischen, pro-kurdischen Kurs vertritt. Nach dem Tod ihres Vaters, eines einflussreichen PKK-Aktivisten, war Leyla Imret als Kind mit ihrer Mutter zu Verwandten nach Bremen geflohen. 2013 kehrte sie zurück und entschloss sich am Grab ihres Vaters, für den seine Tochter immer „Dil Leyla – mein Herz Leyla“ war, in Cizre zu bleiben. Ihr Ziel: mehr Grün in der Stadt, eine bessere Infrastruktur, Freizeiteinrichtungen – ein bisschen so wie in Deutschland. Die Verwandten in Bremen begleiteten den Weggang der gelernten Friseurin, die gerne Politik studiert hätte, es aber wegen ihres Ausländerinnenstatus nicht durfte, mit Skepsis. Sie hatten das Sprichwort nicht vergessen: „Ob Krieg oder Frieden, es fängt immer in Cizre an.“ Die Verwandtschaft in Cizre aber konterte: „Wir können immer wieder fliehen.“ Die in Berlin geborene Dokumentarfilmerin Aslı Özarslan filmte die frischgebackene Bürgermeisterin bei der Eröffnung des Newroz-Fests 2014, diesmal ohne Polizeischüsse, und bei der Besichtigung der Baustelle für den neuen Schlachthof. Doch wenig später flammten die Kämpfe zwischen türkischen Militär- und Polizeieinheiten und der kurdischen Guerilla wieder auf. Die Stadt Cizre wurde zweimal von der Außenwelt abgeschnitten, das zweite Mal für 85 Tage, und mit Granaten beschossen. Während der Ausgangssperren war es nicht einmal möglich, Brot zu kaufen. Das Filmteam musste das Land verlassen. Als die Bürgermeisterin von dem Internet-Portal „Vice News“ falsch zitiert wurde, dass im Südosten der Türkei ein Bürgerkrieg toben würde, wurde sie von den Behörden angeklagt. Sie tauchte unter. Nach Ende der Belagerung meldete sie sich aus einer zerstörten Stadt – eingestürzte Betonbauten, zerschossene Fenster, die Straßen voller Schutt, ihr eigenes Haus von Einschusslöchern übersäht. 300 Menschen sind zu Tode gekommen. Die Situation erinnerte wieder an die 1990er-Jahre, auch die Panzerwagen des türkischen Militärs patrouillierten erneut. Leyla Imret will dennoch in Cizre bleiben. Von ihrem Bürgermeisterposten ist sie offiziell enthoben, aber sie spürt die Verantwortung für die Stadt und ihre Bewohner. Zurzeit steht sie unter Hausarrest, ihr droht eine Haftstrafe. Der Dokumentarfilm gibt dem vergessenen Konflikt am östlichen Ende der Türkei ein Gesicht. Spätestens mit den besorgten Telefongesprächen, die zwischen Cizre und Bremen hin- und hergehen, wird klar, dass dies ein Konflikt ist, der auch Europa angeht. Die Inszenierung von Özarslan, die in Paris Philosophie und Soziologie studierte und eine Zeit lang für ZDF und ARD in Warschau gearbeitet hat, rutscht dabei nie ins Pathetische. Ihre Dokumentation beginnt als optimistisches Porträt einer ungewöhnlichen Politikerinnenkarriere und endet als bedrückende Innenansicht eines brachial wiederkehrenden Militärkonflikts. Protokollarische Beobachtung verbindet sich mit persönlicher Nähe zu einem skeptischen Tatsachenbericht mit schmerzlich offenem Ende.
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