Von Sängern und Mördern

Dokumentarfilm | Deutschland 2017 | 87 Minuten

Regie: Stefan Eberlein

Seit 2003 findet in Russland jährlich ein Gesangswettbewerb für die Insassen von Gefängnissen, Straflagern und Strafkolonien statt. Der Dokumentarfilm begleitet die Regisseurin des Programms auf ihrer Reise quer durchs Land, bei der sie vielversprechende Kandidaten befragt und ihre Auftritte begutachtet. Dabei entstehen faszinierende Einblicke in eine abgeschlossene Welt, die sich angesichts der Casting-Show ungewöhnlich positiv präsentieren kann. Widersprüche in der Selbstdarstellung der musizierenden Verbrecher und den nicht immer gerechtfertigten Optimismus der Projektleiterin behält der Film dabei stets im Blick. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Filmbüro-Süd/SWR/WDR
Regie
Stefan Eberlein
Buch
Stefan Eberlein
Kamera
Denis Klebeev · Manuel Fenn
Musik
Gregor Hübner · Gerd Baumann
Schnitt
Ulrike Tortora
Länge
87 Minuten
Kinostart
07.09.2017
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarische Gefängnisbesuche in russischen Straflagern

Diskussion
Resozialisierung durch Kreativität: Im Jahr 2003 wurde in Russland der Gesangswettbewerb „Kalina Krasnaja“ initiiert, an dem die zwischen 700.000 und 1,5 Mio. Insassen der über das ganze Land verstreuten Gefängnisse, Straflager und Strafkolonien in der Hoffnung mitwirken können, in die alljährlich veranstaltete Gala mit etwa 35 Finalisten zu kommen. Hier beweisen zu drakonischen Strafen verurteilte Mörder, Drogendealer und Diebe ihre kreativen Talente als Interpreten, Texter oder Instrumentalisten. Der Dokumentarist Stefan Eberlein („Parchim International“, (fd 43 898)) hat Natalia Abaschkina, die Regisseurin des Programms, auf ihrer Reise quer durch Russland begleitet, auf der sie in diversen Gefängnissen gecastete Kandidaten besucht, mit ihren spricht und die Performances begutachtet. Einigen der Kandidaten bekommen die Gelegenheit, ihre Geschichte vor laufender Kamera zu skizzieren. Erstaunlich eloquent, mit einer guten Portion Selbstironie und Einsicht erzählen die Strafgefangenen von ihrer kriminellen Karriere, zeigen sich zumeist einsichtig und preisen den erzieherischen Wert ihrer teilweise jahrzehntelangen Inhaftierung. Geht hier ein Filmemacher einer gut gemachten, mitunter auch tränendrückenden Inszenierung auf den Leim? Um die harte Realität des russischen Strafvollzugs ranken dunkle Mythen, aber „Von Sängern und Mördern“ zeigt ganz andere Bilder. Blitzblank sind die Gefängnisse, streng, aber freundlich ist das Wachpersonal, und wo eine Gefängnisarchitektur noch nicht barrierefrei ist, stehen freundliche Mithäftlinge zur Verfügung, um einen „Kalina Krasnaja“-Star treppauf, treppab ins improvisierte Aufnahmestudio zu tragen, wo er seine mit altmodischer Rock-Gitarre unterfütterten, schwerblütigen Songs zum Besten gibt. Überhaupt sind die musikalischen Qualitäten der Darbietungen recht überzeugend. Der eigentümliche Mix aus russischer Folklore, Rock, Pop und rief nachdenklicher Poesie (die Texte der Lieder, die gesungen werden, sind untertitelt) könnten problemlos beim Eurovision Song Contest reüssieren: Soul aus der Strafkolonie. Gerade, wenn man denkt, die Idee des Films verstanden zu haben, weitet sich der Blick. Jetzt rückt Natalia Abaschkina zunehmend ins Zentrum des Interesses, deren Hingabe an das Projekt, verbunden mit einem überaus positiven Menschenbild, fast schon religiöse Züge annimmt. Tief bewegt scheint sie von ihren Begegnungen mit den Strafgefangenen und ihrer Kunst. Freilich sind ihr Enthusiasmus und ihr Engagement in der Öffentlichkeit nicht unumstritten: Soll man Strafgefangenen eine solche Plattform bieten? Was sagen die Opfer dazu, wenn Täter als sensible Poeten präsentiert werden? Oder, aus entgegengesetzter, aber gleichfalls kritischer Perspektive betrachtet: Ist „Kalina Krasnaja“ letztlich nicht staatliche Propaganda, die dem Mythos der in russischen Gefängnissen herrschenden Haftbedingungen entgegenarbeitet? Eberlein hält sich mit Bewertungen und Einschätzungen zurück, sammelt lieber Eindrücke des kuriosen, aber auch faszinierenden Kosmos, erzählt davon, wie die ungewöhnliche Casting-Show ihre Wirkung auf den Alltag der Inhaftierten entfaltet. Dass die Straftäter in gewisser Weise Profis in der Narration ihrer Delinquenz sind, muss der Film hinnehmen. Selbstredend ist hier auch mit Fiktion zu rechnen, was aber nicht stört, weil der Film eine andere thematische Orientierung hat. Dass man jedoch Abaschkinas Optimismus nicht teilen muss, wird deutlich, wenn von Rückfall- und Wiederholungstätern die Rede ist. Und dann ist da auch noch der Täter-Typus, dessen Leben der Strafvollzug mit seinen Regeln und seiner Strenge Struktur verliehen hat. Nach der Haftentlassung droht im Alltag ein schwarzes Loch, auf das ein Song Contest als Resozialisierungsstrategie beim besten Willen nicht vorbereiten kann. Da helfen auch keine Millionen Clicks auf YouTube. Dumm auch, wenn der talentierte Rapper aus der Haft entlassen wird, der Produzent aber gleichzeitig wieder einfährt. Angesichts solcher Aussichten ist dann auch Abaschkina rat- und sprachlos. Auch dies zu zeigen, macht die dokumentarische Qualität von „Von Sängern und Mördern“ aus.
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