Streetscapes Serie (I-IV)

Dokumentarfilm | Deutschland/Israel 2017 | 407 (88 & 92 & 132 & 95) Minuten

Regie: Heinz Emigholz

Vier Filme des Experimentalfilmers Heinz Emigholz. Im Zentrum steht der Dialogfilm „Streetscapes [Dialogue]“, mit dem Emigholz einen fesselnden Einblick in sein künstlerisches Schaffen, aber auch eine fundamentale Lebenskrise gibt. Höchst eigensinnig verwebt er das Werk mit den drei weiteren Filmen, die als „Streetscapes“-Serie in Kapitel geordnet sind. „2+2=22 “ beobachtet Studioaufnahmen der Band Kreidler in Tiflis, „Bickels [Socialism]“ porträtiert Gebäude des israelischen Architekten Samuel Bickels, „Dieste [Uruguay]“ zeigt Industriebauten und Einkaufshallen des uruguayischen Baumeisters Eladio Dieste. Insgesamt ergänzen sich die Filme zu einem Gesamtkunstwerk, das durch die Mitteilsamkeit des Regisseurs existenzielle Fragen nach dem Sinn allen Tuns anklingen lässt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Israel
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Heinz Emigholz Filmprod./Kreidler/Mishkan Museum of Art/Filmgalerie 451
Regie
Heinz Emigholz
Buch
Heinz Emigholz · Zohar Rubinstein
Kamera
Heinz Emigholz · Till Beckmann
Musik
Kreidler
Schnitt
Heinz Emigholz · Till Beckmann
Darsteller
John Erdman (Regisseur) · Jonathan Perel (Analytiker) · Natja Brunckhorst
Länge
407 (88 & 92 & 132 & 95) Minuten
Kinostart
12.10.2017
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm | Experimentalfilm | Filmessay
Externe Links
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Exzeptionelle vierteilige Film-Serie von Heinz Emigholz

Diskussion
„Es gibt Straßen, Wege, Pfade, Gassen, Chausseen ... Highways, Alleen, Promenaden und Boulevards ... Nebenstraßen, Hauptstraßen, Ringstraßen, Prachtstraßen ... Lebenswege, Kreuzwege, Opfergänge ... Straßen in den Abgrund, Wege der Liebe und Reisen der Sehnsucht.“ Heinz Emigholz lässt „Kapitel I: 2+2=22“ seines „Streetscapes“-Filmquartetts mit einer vorwärtstreibenden, ständig neue Bilder generierenden Begriffssammlung beginnen, die Sprechen, Schreiben und öffentlichen Raum miteinander verbindet. Den Text liest die Schauspielerin Natja Brunckhorst mit trockener Stimme aus dem Off, dazu sieht man Straßenszenen aus Tiflis. Für das Projekt „Streetscapes“, das vier Filme fasst, ist dieser Auftakt durchaus richtungsweisend. Denn der Reiz des beachtlichen filmischen Komplexes besteht nicht zuletzt in den vielfältigen Querverbindungen und Pfaden zwischen den einzelnen Filmen bzw. Kapiteln. Die „Streetscapes“ setzen Emigholz’ langjähriges Projekt der Architekturfilme (Arbeiten über Bruce Goff, Adolf Loos, Rudolf Schindler, Auguste Perret und andere) fort und führen es doch in ganz neue, überraschende und für Emigholz fast schon exzentrische Bereiche (Autobiographie, Psychoanalyse). Der Schlüssel zu den vier Filmen, mehr noch zum Gesamtwerk des Regisseurs, findet sich in „Kapitel III: Streetscapes [Dialogues]“. In und um Gebäude von Julio Vilamajó, Eladio Dieste und Arno Brandlhuber sieht man einen Filmemacher und einen Analytiker in ein intensives, aber stets gleichmäßig beherrscht vorgetragenes Gespräch vertieft (verkörpert werden sie von den Schauspielern John Erdman und Jonathan Perel). Den so hyperdichten wie unterhaltsamen, sich in diverse Richtungen (Autobiografie, Redekur, Werkvortrag, Künstlererzählung, Arbeitsgespräch, Projektskizze, Raumtheorie) verzweigenden Dialogmarathon hat Emigholz aus einer fünftägigen Sitzung mit dem Trauma-Spezialisten Zohar Rubinstein zusammengeschrieben. Der Filmemacher klagt darin auch über ein unabgeschlossenes Projekt, das er mit bzw. über die Gruppe Kreidler gemacht hat (Kapitel I). Und er macht sich Gedanken über die Probleme, die bei den anstehenden Dreharbeiten eines Films über den Architekten Samuel Bickels (Kapitel II) entstehen könnten. Währenddessen bewegt er sich mit seinem Analytiker an Schauplätzen des uruguayischen Architekten Eladio Dieste (Kapitel IV). „Kapitel I: 2+2 = 22“ ist eine Anlehnung an Godards Film „One Plus One“ (1968) über die Studioaufnahmen der Rolling Stones. Emigholz begleitet die Düsseldorfer Band Kreidler bei den Aufnahmen zu ihrem Album „ABC“ im Kartuli Pilmi Studio in Tiflis, Georgien. Wie „One Plus One“ ist auch „2+2 = 22“ ein Film über das Addieren: etwa von Bildern, Begriffen, Beobachtungen. So bilden Aufnahmen von Emigholz’ Notizbüchern, eine collagierte Sammlung von Gedanken und Bildern, im Film ein durchgängiges Element. Auch bei der Produktion des Albums wird etwas addiert und zusammengebaut. Doch im Gegensatz zu den klar strukturierten Stadt- und Notizheft-Inserts ist der künstlerische Prozess, dem man in den eichenholzverkleideten Räumen beiwohnt, von einer weitgehend wortlosen Kommunikationsdynamik bestimmt. Straßen, Wege, Pfade, denen man gerne folgt, ohne ihren größeren Überbau wirklich zu überblicken. „Kapitel II: Bickels [Socialism]“ wurde in São Paulo und Israel gedreht. Der in Galizien geborene israelische Architekt Samuel Bickels ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten; bis in die 1970er-Jahre entwarf er in mehreren Kibbutzim wichtige Kulturhäuser: Bibliotheken, gemeinschaftliche Speisesäle, Gasthäuser und Erholungsheime. Heute sind viele seiner Gebäude verfallen oder sie dienen nicht mehr dem gemeinschaftlichen Zweck, für den sie ursprünglich gebaut wurden. Im Gespräch mit dem Analytiker antizipiert der Filmemacher, dass es ein etwas trauriger Film werde. Dagegen sind die Gebäude, die im „Kapitel IV: Dieste [Uruguay]“ zu sehen sind, belebte Orte der Gemeinschaft, des industriellen Arbeitens und des Konsums – der uruguayische Architekt und Schalenbaumeister Eladio Dieste entwarf Brücken, Türme, Kirchen, Industriegebäude und Einkaufszentren. „Kapitel III: Streetscapes [Dialogues]“ entfaltet sich als gewaltiger Dialogfilm, der sich beim Sprechen immer weiter ausdehnt; Erzählraum und realer Raum gehen ein interessantes Spannungsverhältnis ein. Emigholz’ filmischer Ansatz ist dabei nicht anders als in seinen „reinen“ Architekturfilmen. So filmt er die beiden Schauspieler in einer Vielzahl von Einstellungen und Einstellungsgrößen, wobei auch die für Emigholz typischen gekippten Perspektiven zum Einsatz kommen sowie die eher raschen Bildfolgen. Auch Erzählung und Bildebene stehen oft asymmetrisch zueinander, wenn der Filmemacher etwa in großzügiger, lichter Umgebung seine Nachkriegserinnerungen rekapituliert. „Kapitel III: Streetscapes [Dialogues]“ ist ein fesselnder Film über künstlerisches Arbeiten, in dem Schaffenskrisen, Blockaden und Ängste ebenso verhandelt werden wie filmkonzeptuelle Fragen. Gleichzeitig nimmt die Idee zu dem Film, den man gerade sieht, während des Gesprächs erstmals Gestalt an: „Ich möchte zwei Leute in einer Art Road Movie in ungewöhnliche Schauplätze verpflanzen, ohne zu erzählen, warum sie dort sind. Sie haben nur einen Dialog, vielleicht einen sehr langen.“
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