Die letzte Brachfläche Berlins ist verkauft und wird in ein „schickes Quartier“, also einen stadtplanerischen Albtraum namens „Europa“ verwandelt werden. Für den Restbestand an günstigen Altbauwohnungen bedeutet dies Kernsanierung. Auch in der Künstlerinnen-WG von Nola (Filmemacherin), Katja (Schauspielerin) und Martina (Fotografin und Musikerin) liegt die Kündigung bereits auf dem Tisch. Zeitweise wird der Strom abgestellt und stehen Handwerker mit großem Besteck auf der Matte. Bislang pflegte das Trio ein provisorisches Leben mit kurzfristigen Zielen, immer auf dem Sprung, ohne Bindungen und einem romantischen Freiheitsbegriff folgend. Damit könnte jetzt Schluss sein! Doch was tun? Und mit wem? Und warum?
Nola startet ein Filmprojekt mit dem Titel „Selbstoptimiertes Individuum und kollektives Bewusstsein“, was sich 1975 als Suhrkamp-Taschenbuch wahrscheinlich gut verkauft hätte. 2017 verbirgt sich hinter dem Titel freilich keine These, sondern bestenfalls ein Haufen Fragen, mit denen die fiktive Figur Nola einige nicht-fiktive Experten wie Philipp Felsch, Rahel Jaeggi, Lilly Lent, Andrea Trumann, Carl Hegemann, Jutta Allmendinger und Boris Groys konfrontiert. Felsch, dessen Sachbuch der Film von Irene von Alberti seinen Titel verdankt, hatte den Zusammenhang von linker Publizistik (Stichwort: „Merve Verlag“), kollektiver Lektüre und Revolte herausgearbeitet, was im Film genauso als leicht nostalgische Reminiszenz gehandelt wird wie frühere Modelle radikaler Praxis (Stichwort: „RAF“).
Es stellen sich Fragen wie: Wie steht es um die Rückkehr von Geschichte ohne die von der Postmoderne dekonstruierten großen Erzählungen? Ist Utopie noch denkbar? Nola sammelt diverse Bruchstücke aktueller Gesellschaftstheorie zwischen „Staatsfeminismus“ und dem „Niedriglohnsektor Frau“ (Lent/Trumann), der Stadt als Lebensform (Jaeggi), dem Theater als Raum für utopische Experimente (Hegemann) oder den Paradoxien des Kinos, das passiven Zuschauern handelnde Subjekte vor Augen führt.
Ähnlich wie Nola im Verlauf ihrer Recherchen erkennt, dass es sich bei ihrem Film eher um eine Bestandsaufnahme als um eine schlüssige Antwort handelt, rekapituliert von Albertis Hybrid zwischen Fiktion, Dokumentation, Theatralität und Essay diverse historische Strategien des Anti-Illusionistischen, die das politische Filmemachen der 1960er- und 1970er- Jahre im Rekurs auf Brecht (man denke an Godard, Tanner, Kluge, Farocki, Sander) entwickelt hat, ergänzt um die Diskursivität des postdramatischen Theaters etwa eines René Pollesch.
Damit nicht genug: auf diversen Ebenen spielt „Der lange Sommer der Theorie“ auch noch durchaus humorvoll und selbstreflexiv mit Themen wie dem Feminismus und dem feministischen Filmemachen („nur“ attraktive Männer ohne dramaturgische Funktion werden umgehend in Stehlampen verwandelt), dem „Mythos Berlin“, dem Recht auf Faulheit, Zivilcourage und Würde, dem Geschichtsrevisionismus der Medien (Stichwort: „Hitler, menschlich gesehen“) und der Rolle der Kunst: „Man macht Kunst und wird dafür bestraft, indem man nichts damit verdient!“
Eine zentrale Einsicht der durch Jahrzehnte der Selbstoptimierung Betäubten ist der Satz: „Man müsste sich positionieren!“ Dies entpuppt sich allerdings insofern als schwierig, als das über lange Zeit gepflegte Selbstverständnis einer prinzipiellen Opposition gegenüber dem Status quo mittlerweile von rechts durch Pegida und AfD überholt wurde. Plötzlich findet man sich als Opposition der Opposition auf der Seite des Juste milieu, das man habituell in Frage stellte.
Auf diese Weise skizziert Irene von Alberti ein komplexes und widersprüchliches Panorama der aktuellen Verhältnisse und versucht zugleich als operativer Film dem Kino die „vita contemplativa“ auszutreiben, indem sich der Film als Hypertext den Neuen Medien öffnet. Wer will, findet lange Versionen von Nolas Interviews auf YouTube.
Ein ungelöstes Problem des sich prinzipiell anti-autoritär gebenden Films bleibt allerdings die Autorität der befragten Experten, die durch die etwas anstrengende Naivität der Interviewerin Nola zusätzlich pointiert wird. Hier liegt das ernüchternde Moment des Films: Sollte die Generation der Thirtysomethings politisch in Bewegung geraten, ohne historische Modelle nachzustellen, so müsste sie dringend daran arbeiten, etwas anzubieten, was dem Expertenwissen produktive Überraschungen hinzufügt. Indem man Carl Hegemann zum Bobbycar-Fahren „verführt“, bringt man vielleicht das Publikum zum Lächeln, aber die Verhältnisse noch lange nicht zum Tanzen.