Aquarius (2016)

Drama | Brasilien 2016 | 142 Minuten

Regie: Kleber Mendonça Filho

Eine brasilianische Musikkritikerin will ihren Lebensabend in dem Appartement verbringen, das sie seit mehreren Jahrzehnten bewohnt. Das passt einer Immobilienfirma nicht, die den Gebäudekomplex an der schicken Küstenstraße von Recife in Luxuswohnungen umwandeln will. Das ebenso kontemplative wie dichte Drama entwirft das Porträt einer in sich ruhenden Frau, die in jungen Jahren eine Krebserkrankung besiegte und sich auch jetzt nicht kampflos aus ihrem Zuhause vertreiben lassen will. Die sorgsam inszenierten Schilderungen aus drei erfüllten Jahrzehnten werden von der überragenden Hauptdarstellerin zusammengehalten. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
AQUARIUS
Produktionsland
Brasilien
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
CinemaScópio/SBS/Globo Filmes/VideoFilmes/Agência Nacional do Cinema (ANCI)
Regie
Kleber Mendonça Filho
Buch
Kleber Mendonça Filho
Kamera
Pedro Sotero · Fabricio Tadeu
Schnitt
Eduardo Serrano
Darsteller
Sonia Braga (Clara) · Maeve Jinkings (Ana Paula) · Irandhir Santos (Roberval) · Humberto Carrão (Diego) · Zoraide Coleto (Ladjane)
Länge
142 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Eine pensionierte brasilianische Musikkritikerin möchte in ihrer Wohnung in Recife ihren Lebensabend verbringen. Das passt Immobilienspekulanten aber nicht in den Kram. Ein ebenso politisches wie meditatives Porträt einer kämpferischen Frau, die in ihrem Leben noch nie klein beigegeben hat.

Diskussion

Im Kino schaue man schönen Menschen beim Verrichten (un)wichtiger Tätigkeiten zu, heißt es. Das Bonmot trifft die Sache nicht ganz, auch wenn nicht jeder Film der Kontemplation dient. Doch der Satz trifft durchaus auf „Aquarius“ von Kleber Mendonça Filho zu, den man, obwohl er auch eine Geschichte erzählt, lieber als Schilderung apostrophieren möchte. Als eine bezaubernde Schilderung von Orten, Räumen und Befindlichkeiten: den Lebensräumen einer nicht mehr jungen Frau, ihrem Ort in der Gesellschaft, ihrer körperlichen und seelischen Befindlichkeit. Sie heißt Clara (Sônia Braga), ist Mitte 60 und lebt in der brasilianischen Hafenstadt Recife, in einem aus den späten 1940er-Jahren stammenden Appartementkomplex am schickeren Teil der Küstenstrasse Avenida Boa Viagem.

Ziemlich genau in der Mitte des Films erklärt Clara während eines Spaziergangs am Strand der Freundin ihres Lieblingsneffen Tomás, wie die Verhältnisse in Recife beschaffen sind. Vom Meer aus gesehen links leben die Betuchten, und rechts des kleinen Flüsschens, das aus dem Gebirge kommend den Strand unterteilt, hausen alle anderen. So auch ihre Haushälterin Ladjane, die man zu ihrem Geburtstag zu Hause besucht.

Schwimmen, Tanzen, Musik hören

Ladjane ist Claras engste Vertraute. Sie weiß um Claras Vorlieben und Sorgen; sie hütet auch die Wohnung, wenn Clara diese verlässt. Sei es, um frühmorgens ein paar Meter zu schwimmen, mit ihren Freundinnen abends zum Tanz zu gehen, einen Redakteur zu treffen oder ihren Enkel spazieren zu führen.

Es ist ein beschauliches Leben, das Clara führt. Ihr Mann ist vor 17 Jahren gestorben, ihre drei Kinder sind erwachsen und länger schon ausgezogen. Clara hat sich als Musikkritikerin einen Namen gemacht. Obwohl sie nicht mehr publiziert, ist ihre Meinung gefragt. Einmal besuchen sie zwei Journalistinnen und fragen sie unter anderem auch, was sie von mp3 halte.

Kleber Mendonça Filho lässt Clara, die einnehmend-fiebrig, sozusagen mit jeder Fiber ihres Körpers und bis in die letzte Haarspitze lasziv-intensiv von Sônia Braga verkörpert wird, denn auch oft Musik hören. Konzentriert, mit geschlossenen Augen. Alleine zu Hause, in Erinnerung an frühere Zeiten oder spätnachts, wenn sie von einem nicht restlos beglückenden Flirt nach Hause kommt.

Ein Ort der Geborgenheit

Ein wenig ist „Aquarius“ auch ein Film über brasilianische Musik. Um das Herz seiner Freundin zu erobern, empfiehlt Clara ihrem Neffen Maria Bethânias „Um Jeito Estúpido de Te Amar“; im Film werden Lieder von Gilberto Gil, Amar Azul und Lupicínio Rodrigues anspielt; zum Auftakt und Ausklang erklingt „Hoje“ von Teguera: Sehnsuchtsmusik, in der Gegenwart eines (Frauen-)Lebens verortet.

Ebenfalls zweimal erklingt „Feliz Aniversário“, das gängige brasilianische Geburtstagslied, geschrieben von Heitor Villa-Lobos und Manuel Bandeira. Augenfällig wird darin nicht nur das Geburtstagskind, sondern auch dessen Zuhause besungen: ein Ort des Schutzes, der Geborgenheit.

Spätestens damit ist man beim titelgebenden „Edifício Aquarius“ angelangt, dem Haus, in dem in den 1980ern Claras Tante Lúcia wohnte. Clara hat inzwischen selbst mehr als ihr halbes Leben darin gewohnt. Sie hat die Wohnung in Schuss gehalten, immer wieder renoviert und will darin ihren Lebensabend verbringen.

Vom Auf und Ab des Lebens

Doch Recife hat sich im Laufe der 35 Jahre, die „Aquarius“ umfasst, grundlegend verändert. Aus der einst zerstreuten Stadt, die man auf eingeblendeten Fotos sieht, ist eine dicht bebaute Großstadt geworden. Das Edifício Aquarius liegt in bester Lage und soll einer modernen Überbauung weichen. Die Nachbarn haben ihre Wohnung längt verkauft und sind ausgezogen. Clara aber besitzt vier weitere Wohnungen, sie bezieht eine Rente und ist somit nicht auf Geld angewiesen. Und so, wie sie vor 30 Jahren ihren Brustkrebs besiegte, will sie nun auch den Kampf gegen die Immobilienfirma gewinnen, die sie mit allen möglichen und nicht nur legalen Mitteln zu vertreiben versucht.

Der Film ist als Dreiakter aufgebaut. Der erste Teil, mit „Claras Haar“ überschrieben, beginnt 1980 und springt unverhofft in die Gegenwart. In der ersten Szene trägt Clara ihr Haar nach erfolgreicher Krebsbehandlung als Bubikopf; ihr Mann spricht in einer Clara zu Ehren gehaltenen Rede die „schwierigen Zeiten“ der ausklingenden Militärdiktatur an; doch solche politischen Töne verlieren sich im Verlauf des Films. Teil zwei, „Claras Liebe“, beschreibt Claras Verhältnis zu ihrer Familie. Zu ihrem Bruder Antonio und ihrer Schwägerin Fatima, ihrem Lieblingsneffen Tomás, der sie umschwärmt, ihren eigenen Kindern, die sich zwar um ihr Wohlergehen sorgen, aber mit Blick auf den Wohnungsverkauf eine von monetären Interessen geprägte Haltung einnehmen.

Es geht um Erinnerung und die Vergangenheit

Der dritte Teil schließlich, „Claras Krebs“, lässt Wunden aufbrechen, in einem Traum, der im sonst realistisch gehaltenen Film seltsam surreal anmutet und Claras amputierte Brust unverhofft nachbluten lässt. Aber auch in dem von der Immobilienfirma mehrfach willkürlich verschandelten und letztlich in seiner Bausubstanz angegriffenen Wohnkomplex.

„Aquarius“ ist mit 147 Minuten ein langer, kontemplativer und doch ungemein dichter Film. Schwerlich kann man sich an einen anderen Film erinnern, in dem die Protagonistin derart oft schlummert, verweilt, sich umzieht oder das Haar aufbindet und wieder löst – und doch ist die Handlung jeden Augenblick dicht und stringent. Claras Feldzug, vordergründig gegen einen von den USA geprägten, überhitzten Konsumismus gerichtet – der Immobilienagent, der Clara auf die Pelle rückt, hat sein Handwerk in den USA gelernt – ist letztlich ein glühendes Plädoyer für das Recht nicht nur einer Frau, sondern einer Gesellschaft auf Vergangenheit und Erinnerung.

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