Dokumentarfilm | Deutschland/Niederlande 2017 | 95 (TV: 75) Minuten

Regie: Melanie Andernach

Der Bürgerkrieg hat die Familie des somalischen Profifußballers Shash in den 1990er-Jahren in alle Welt verstreut. Während er mit seiner Tochter und den Enkelkindern nach Deutschland floh, sind andere Familienmitglieder in Italien oder Kanada heimisch geworden; die hochbetagte Mutter hat in Äthiopien ein Asyl gefunden. Der Dokumentarfilm entwirft ein aufschlussreiches Bild vom Leben in der Diaspora. Die Inszenierung setzt dabei auf Nähe und Intimität und sucht das Große im Kleinen. Eindringlich lotet der Film die soziale und geografische Kluft aus, die die Flüchtlingsfamilie zu zerreißen droht. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
GLOBAL FAMILY
Produktionsland
Deutschland/Niederlande
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Made in Germany/ZDF-Das kleine Fernsehspiel/CTM/Borderline Pic.
Regie
Melanie Andernach · Andreas Köhler
Buch
Melanie Andernach · Andreas Köhler
Kamera
Andreas Köhler
Musik
Stefan Will
Schnitt
Nicole Kortlüke · Carina Mergens
Länge
95 (TV: 75) Minuten
Kinostart
28.06.2018
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Eindringlicher, aufschlussreicher Dokumentarfilm über eine somalische Familie, die der Bürgerkrieg in alle Welt verstreute.

Diskussion
Yasmins Sohn wird eingeschult. Neugierig lässt der dunkelhäutige Junge seinen Blick durch die Aula schweifen, während seine Mutter und sein Großvater Shash ihm zuwinken und gleichzeitig versuchen, den Moment mit dem Smartphone festzuhalten. Die Einschulung ist für Yasmin und Shash ein wichtiger Moment des Ankommens, ein symbolisches Wurzeln schlagen im deutschen Exil, auch wenn nur ein kleiner Teil ihrer Familie daran teilnimmt. Der Rest ist über den ganzen Globus verstreut. 1989 mussten Shash und seine Verwandten aus ihrer Heimat in Somalia fliehen. Als ehemaliger Fußball-Profi und Politiker war Shash seines Lebens nicht mehr sicher; es gelang ihm aber, die Flucht seiner Familie zu organisieren. Der Bürgerkrieg verschlug die Angehörigen in alle Welt: Sein Bruder Aden ist in Italien gestrandet, sein Bruder Abdulahi hat es zusammen mit ihrer Mutter Imra nach Äthiopien geschafft; entfernte Verwandte leben in Nordamerika. „Global Family“ erzählt allerdings nicht von der Flucht, sondern von dem, was danach folgt. Obwohl die Katastrophen der Migration noch immer schmerzen, da Yasmins Töchter von den Folgen eines Brandanschlags fürs Leben gezeichnet sind, nehmen sie im Film wenig Raum ein. Es ist vielmehr die Übergangssituation, der Versuch, ein neues Leben auf einem fremden Kontinent auszubauen, der die Neugier der Dokumentaristen Melanie Andernach und Andreas Köhler geweckt hat. Statt detaillierter Nacherzählungen der Traumata des Bürgerkriegs dominieren Bilder aus dem Alltag der Familie in Europa. Hier ringen Shash und Aden in Deutschland wie in Italien mit der Bürokratie, während Yasmin als Mutter von vier Kindern voll ausgelastet scheint. Neben den individuellen Bemühungen, das europäische Refugium als Heimat anzunehmen, prägt die Sehnsucht nach der verstreuten Verwandtschaft das Leben im Exil. Der neuralgische Punkt der globalen Familie ist die Distanz. Wie kann eine Familie weiterbestehen, die in alle Teile der Welt fliehen musste? Der Film nähert sich dieser zentralen Frage des Lebens im Exil nicht durch Abstraktion, Objektivierung oder eine Außenperspektive. Die Kamera nimmt vielmehr als sprichwörtliche „Fliege an der Wand“ am Alltag der Familie teil. „Global Family“ setzt auf Nähe und Intimität, erzählt das Große im Kleinen. Ohne Off-Kommentar, Interviews oder Exkurse zur Geschichte Somalias setzt sich das Bild der Diaspora zusammen. Dabei entfaltet sich die Stärke dieses Ansatzes gerade innerhalb der selbst auferlegten Grenzen. Durch die programmatische Distanzlosigkeit scheint auch der dramaturgische Verlauf des Films von der Familie bestimmt zu sein. So stellt ein von Shash initiiertes Treffen der Generationen in Äthiopien den Höhepunkt von „Global Family“ dar. In der bescheidenen Hütte, die der 88-jährigen Familienältesten Imra als vorübergehende Unterkunft dient, soll besprochen werden, wie man ihr eine Rückkehr in ihre Heimat Mogadischu ermöglichen kann. So kommen alle vier Generationen der Familie zusammen. Dabei verdeutlicht das Treffen sehr anschaulich, dass die globale Fragmentierung der Familie nicht nur eine geografische, sondern auch eine soziale Distanz hervorbringt: Yasmins Familie ist in Deutschland angekommen, sie hat die gesellschaftlichen Konventionen dieses Landes adaptiert. Ihr Lebensstandard hat sich sehr weit von dem in Äthiopien entfernt. Der Besuch bei der Großmutter zeigt diese Kluft. Die Trockentoilette, die von der gesamten Nachbarschaft geteilt wird, wollen weder Yasmin noch ihre Kinder benutzen; die Schlachtung einer Ziege ist für sie ebenso schwer zu ertragen wie die scharfen Dämpfe, die beim Mahlen von Chilischoten das winzige Haus erfüllen. Die Familie nimmt das alles mit Humor: Man lacht über die eigene Spießigkeit, lernt die gemeinsame Mahlzeit im Sitzkreis schätzen und versucht einander vor den Chilidämpfen zu schützen. Es sind diese Szenen, in denen der filmische Ansatz wunderbar aufgeht. Kleine Beobachtungen, die zeigen, wie eine Familie trotz der durch Exil, Flucht und Lebensstandards mittlerweile sehr unterschiedlichen Identitäten wieder zusammenrückt. Eine gemeinsame Heimat wird es für sie nicht mehr geben. Dennoch scheinen die Familienbande stark genug zu sein, um selbst einer globalen Spaltung zu trotzen.
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