El Mundo Sigue

Drama | Spanien 1965 | 121 Minuten

Regie: Fernando Fernán Gómez

Porträt einer spanischen Durchschnittsfamilie aus Madrid zu Beginn der 1960er-Jahre, die mit drei Kindern in einer Kellerwohnung haust. Das neorealistische Drama greift Elemente des zeitgenössischen Unterhaltungsfilms auf, bricht dessen Heile-Welt-Gestus aber durch eine harte, unsentimentale Sicht, in der Tabuthemen zur Sprache kommen, die Doppelmoral karikiert und vor gestörten Beziehungen und zerrissenen Familienbanden nicht die Augen verschlossen werden. Der 1963 in Schwarz-Weiß gedrehte und mit einer ungewöhnlichen Rückblenden-Technik erzählte Film verschwand nach drei Sondervorstellungen in den Archiven. Erst 2015 wurde das Meisterwerk des spanischen Neorealismus als restaurierte Fassung in den Kinos uraufgeführt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
EL MUNDO SIGUE
Produktionsland
Spanien
Produktionsjahr
1965
Produktionsfirma
Ada Films
Regie
Fernando Fernán Gómez
Buch
Fernando Fernán Gómez
Kamera
Emilio Foriscot
Musik
Daniel J. White
Schnitt
Rosa G. Salgado
Darsteller
Lina Canalejas (Eloísa) · Fernando Fernán Gómez (Faustino) · Gemma Cuervo (Luisita) · Milagros Leal (Mutter) · Agustin González (Don Andrés)
Länge
121 Minuten
Kinostart
31.05.2018
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Neorealistisches Drama über eine Familie in Madrid Anfang der 1960er-Jahre.

Diskussion

Die beiden Schwestern hassen sich. Luisa träumt von einem besseren Leben und lässt sich von wohlhabenden Männern aushalten. Eloisa hingegen ist unglücklich verheiratet und hat Schwierigkeiten, ihre drei Kinder zu ernähren und zu kleiden. Ein viertes Kind ist unterwegs, doch ihr Ehemann Faustino lässt sich oft tagelang nicht in der kleinen Kellerwohnung sehen und gibt seinen bescheidenen Lohn als Kellner lieber für Alkohol und Fußballwetten aus. Geld erhält die junge Mutter nur von ihrer Familie. Ihr Vater ist Polizist, streng und autoritär, die Mutter Hausfrau, warmherzig, aber unfähig, die Situation zu verändern. Ihr Bruder wohnt noch zu Hause, denn er hat das Priesterseminar kurz vor der Weihe abgebrochen. Jetzt arbeitet er in der Stadtverwaltung und überschüttet seine Umgebung mit bigotten Moralpredigten und Bibelzitaten.

Anfang der 1960er-Jahre ist die wirtschaftliche und politische Situation in Madrid äußerst bedrückend. Viele Familien aus der Mittelschicht kommen nicht mehr über die Runden. Über die tragischen Wendungen im Leben einer Durchschnittsfamilie vermittelt Regisseur Fernando Fernán Gómez, der selbst den nichtsnutzigen Ehemann Faustino spielt, das Bild einer Gesellschaft, deren Reichtum und Macht in den Händen weniger ruht und die dem Rest keine anderen Perspektiven als Glücksspiel oder Prostitution erlaubt.

Dabei sind die Protagonisten und Nebenfiguren aus „El mundo sigue“ durchaus typisch für den volkstümlichen spanischen Unterhaltungsfilm der 1950er- und 1960er-Jahre: Filme über das Leben der kleinen Leute in den einfacheren Stadtvierteln, oder über kinderreiche Familien, die trotz aller Alltagsproblemen immer zusammenhalten und nach vorne schauen. Die kinderreiche katholische Familie war eine ideologische Säule des Franco-Regimes. Bereits 1942 beschwor der Propagandafilm „Raza“ von José Luis Sáenz de Heredia, zu dem Franco unter einem Pseudonym höchstpersönlich das Drehbuch schrieb, wie nur die Familie in Krisenzeiten wie dem Spanischen Bürgerkrieg die ewigen Werte des Landes bewahren kann.

Zwei Jahrzehnte später fabulierte die sentimentale Komödie „La gran familia“ (1962) von Fernando Palacios höchst erfolgreich über die Zusammenhänge zwischen Kinderreichtum, familiären Werten und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Der im gleichen Jahr entstandene Film „El mundo sigue“ ist hingegen ein Familiendrama ohne Humor, grausam und unsentimental. Die Stützen des Regimes, Kirche und Militär, wirken in den Nebenfiguren grotesk: Der Bruder ist ein Frömmler mit geringer Empathie, der Vater ein einfacher Polizist, der sich in seiner Uniform als höchster Vertreter staatlicher Autorität fühlt. Der Film spricht Tabuthemen an: häusliche Gewalt, Ehebruch, Abstieg in die Prostitution und Hunger. Er zeigt gestörte menschliche Beziehungen und zerrissene Familienbande. Die Protagonisten moralisieren gerne, aber ihre moralischen Kriterien sind dünn: Als Luisa mit ihren Männern viel Geld verdient, akzeptiert der streng moralische Vater sie wieder. Als Faustino scheinbar den großen Toto-Gewinn macht, wird er zum Held der Familie. „El mundo sigue“ ist das Porträt einer bigotten Gesellschaft, in der Heuchelei und Neid regieren und Neureiche den Ton angeben.

Gedreht wurde der Film 1963 im Madrider Stadtzentrum. Neben seinen neorealistischen Schwarz-Weiß-Bildern überzeugt der Film insbesondere durch seine ungewöhnliche Montage und Rückblenden-Technik. Wenn etwa Luisa zur Versöhnung mit der Familie wieder die Treppe zum Elternhaus hinaufläuft, wird sie als Kind gegengeschnitten, das ebenfalls die Treppe hochläuft.

Fernando Fernán Gómez (1921-2007) war Regisseur, Schauspieler und Schriftsteller. Er spielte in mehr als 200 Filmen mit und führte bei fast 30 die Regie. „El mundo sigue“ ist der letzte Teil einer Trilogie nach „La vida por delante“ (1958) und „La vida alrededor“ (1959). Der Film erhielt seine Drehgenehmigung wohl in Folge einer kurzen Liberalisierung der spanischen Kulturpolitik und auch dank der literarischen Vorlage, dem gleichnamigen Roman von Juan Antonio de Zunzunegui, einem vom Regime hoch geschätzten baskischen Schriftsteller. Nach seiner Fertigstellung gab ihn die Zensur aber nicht für den Verleih frei. Nach drei Sondervorstellungen 1965 in Bilbao verschwand er in den Archiven. Über 50 Jahre hinweg war „El mundo sigue“ eine Legende der Filmgeschichte; erst 2015 gelangte die restaurierte Fassung dieses Meisterwerks des spanischen Neorealismus in die spanischen Kinos. Mit großem Erfolg, was vor allem daran gelegen haben dürfte, dass er den Nerv des Publikums in der Wirtschafts- und Finanzkrise berührte. Denn durch den Umstand, dass „El mundo sigue“ den konkreten politischen Kontext nicht benennen durfte, bleibt seine allgemeine Grundstimmung von Krise und Korruption auf faszinierende Weise auch heute gegenwärtig.

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