Ethel & Ernest

Animation | Großbritannien 2016 | 91 Minuten

Regie: Roger Mainwood

Eine Adaption von Raymond Briggs' gleichnamiger Graphic Novel (1998): Die Lebensgeschichte von Briggs' Eltern Ethel und Ernest, von deren Kennenlernen im Jahr 1928 bis zu ihrem Tod 1971. Der Film verfolgt, verdichtet in pointierten Episoden, ein unspektakuläres Familienleben, das sich bis auf die Zäsur des Zweiten Weltkriegs ohne größere Dramen entfaltet. Dabei spiegeln sich im privaten Mikrokosmos Entwicklungen der britischen Gesellschaft. Eine poetische, von sanftem Humor getragene Hommage an die sogenannten „kleinen Leute“ und zugleich ein liebevoll ausgemaltes Porträt britischer Alltagskultur. - Sehenswert ab 10.
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Filmdaten

Originaltitel
ETHEL & ERNEST
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Lupus Films/Ethel & Ernest Prod./Mélusine Prod./Cloth Cat Animation/BFI/Film Cymru Wales/Film Fund Luxembourg
Regie
Roger Mainwood
Buch
Roger Mainwood
Musik
Carl Davis
Schnitt
Richard Overall
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 10.
Genre
Animation | Literaturverfilmung
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Universum (16:9, 1.78:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion

Seine Eltern seien in keiner Weise außergewöhnlich gewesen, sagt Illustrator und Comicautor Raymond Briggs, auf dessen gleichnamiger Graphic Novel „Ethel & Ernest“ (1998) beruht, in einem Realfilm-Prolog, mit dem Filmemacher Roger Mainwood seine Adaption einleitet. Was man vielleicht auch als Warnung verstehen kann: „Ethel & Ernest“, ein Porträt der von 1928 bis zu ihrem Tod 1971 andauernden Ehe von Briggs’ Eltern, versucht sich an dem ungewöhnlichen Unterfangen, einer glanzlosen Durchschnittsexistenz ohne nennenswerte Konflikte ein Denkmal zu setzen – einem Leben ganz ohne das, was normalerweise Interesse und Spannung schürt. In der westlichen Comic- und auch Animationsfilmkultur eine ziemliche Ausnahmeerscheinung, die man eher mit den japanischen „Slice of Life“-Mangas und Animes assoziiert. Dass einen das Schicksal von Ethel und Ernest trotz seiner scheinbaren Banalität unwiderstehlich in Bann schlägt, sowohl in Buch- als auch in Filmform, liegt an dem liebevoll-humorvollen Blick, mit dem der Sohn seine Eltern auferstehen lässt, an der geschickten Verdichtung, mit der die aufgegriffenen Episoden den Charakter der beiden so plastisch herausarbeiten, dass sie einem bald wie alte Bekannte vorkommen. Was im Film noch durch die verdienten Schauspieler Jim Broadbent und Brenda Blethyn verstärkt wird, die dem Paar ihre Stimmen leihen. Zudem fasziniert die Verquickung mit der Zeitgeschichte, die die Existenz der Briggs’ prägt: „Ethel & Ernest“ ist nicht zuletzt auch ein Porträt des sich verändernden Großbritanniens von den späten 1920er-Jahren über den Einschnitt des Zweiten Weltkriegs, die sozialen Veränderungen in der Nachkriegszeit mit der ersten Labour-Regierung bis zu den gesellschaftlichen Umbrüchen der 1960er-Jahre. In seiner Heimat ist der 1934 geborene Raymond Briggs eine Institution, schon wegen seines liebeswerten Kinderbuchs „Der Schneemann“ (1978), das ein moderner Weihnachtsklassiker ist und auch als Zeichentrickserie und Musical-Version Jahr für Jahr für wohlige Gefühle sorgt. In den 1980ern wandte sich der erfolgreiche Kinderbuchautor zunehmend auch „erwachsenen“ Themen zu und erntete vor allem für seine Comics um das Working-Class-Ehepaar Jim und Hilda Bloggs („Gentleman Jim“, „When the Wind Blows“) Anerkennung. Die beiden waren bereits angelehnt an Briggs’ Eltern Ethel und Ernest, denen er dann später ein eigenes Buch widmete: Auch hier ging es Briggs schon darum, größere gesellschaftliche Entwicklungen sozusagen aus der „grassroots“-Perspektive der ganz normalen „kleinen Leute“ zu zeigen, in „When the Wind Blows“ (der 1986 auch verfilmt wurde) etwa die Bedrohung durch die nukleare Aufrüstung. „Ethel und Ernest“ hebt an als Mikro-RomCom, wenn der Milchmann Ernest 1928 auf dem Fahrrad beim Weg zur Arbeit am Fenster eines Hauses Ethel erspäht, die dort als Kammerzofe einer reichen Dame arbeitet und dem fünf Jahre jüngeren Mann scheinbar mit dem Staubtuch zuwinkt. Ein erster Blickwechsel, aus dem dann bald das erste Date wird (im Kino, bei John Fords „Hangman’s House“ mit Victor McLaglen) und schließlich eine Heirat, für die Ethel ihre Anstellung aufgibt. Die beiden erwerben das einfache, aber behagliche Südlondoner Familiendomizil, in dem sie, abgesehen von einigen Urlauben an der Südküste, den Rest ihres Lebens verbringen werden. Sowohl das Buch als auch der Film nehmen sich einige Zeit, dieses Haus und seine Ausstattung immer wieder zu beleuchten – geben doch die Gegenstände in Ethels und Ernests Leben, Ethels anfängliches Entzücken über das für die damalige Zeit höchst moderne Badezimmer und nachträgliche Anschaffungen wie die erste, noch ziemlich archaische Waschmaschine, das erste Auto, das erste, von Ethel misstrauisch beäugte Telefon und der erste Fernseher Aufschlüsse über die sich verändernden Lebensumstände des Paares – ein Stückchen Alltagskultur, das Briggs liebevoll dokumentiert. Unterbrochen von der Zäsur des Zweiten Weltkriegs, während dem der kleine Sohn des Paares wie so viele Londoner Kinder zu Verwandten aufs Land verschickt wird, sein Vater dabei hilft, nach den Bombardements der Stadt Brände zu löschen und den das Ehepaar sozusagen als lebende Inkarnation des „Keep calm and carry on“-Diktums übersteht, entfaltet sich ein unscheinbarer, im Kleinen aber trotzdem ziemlich bewegter Mikrokosmos. Die Zeit nach dem Kriegsende, als unter der Labour-Regierung Großbritannien zum modernen Sozialstaat ausgebaut wurde, ist für die Briggs eine hoffnungsvolle Phase von Aufbau und Fortschritt, in der der persönliche Komfort wächst und der Filius eine gute Schulbildung bekommt – bis sich dann in den 1960ern das Alter bemerkbar macht und Ethel und teilweise auch der eigentlich progressive, Neuem aufgeschlossene Ernest allmählich auf wachsende Distanz gehen zu den sich verändernden Zeitläufen, die sich in der ersten Mondlandung, in Debatten um die Legalisierung von Homosexualität, in den länger werdenden Haaren des Sohns manifestieren. Bis dann Ethels Gedächtnis sich allmählich verabschiedet und bald auch der ganz große Abschied, der Tod, wartet – der das Paar allerdings nicht lange voneinander trennt. So genau Briggs’ Comic und auch der sich sehr eng an die Vorlage haltende Film die Lebensumstände des Paares nachzeichnen, so wenig erheben beide Anspruch auf schonungslosen Realismus. Was schon die Optik nahelegt, bei der sich der Film ebenfalls akribisch an der Vorlage orientiert (wofür die Macher extra einige zusätzliche digitale, Briggs’ Strich nachahmende Zeichen-Werkzeuge entwickelten): Die kleinbürgerliche Welt erscheint in einem weich-poetischen Licht. Und Spannungen, wie etwa die latenten Kabbeleien zwischen dem bodenständigen Labour-Anhänger Ernest und Ethel, die sich an der „besseren“ Gesellschaft orientiert und sich standhaft weigert, sich als „working class“ einstufen zu lassen, erscheinen gefiltert durch Briggs’ sanften Humor. Angesichts des Brexit-Votums, das nicht zuletzt auch einer Sehnsucht nach einem vergangenen, vermeintlich heileren, übersichtlicheren „good old England“ Ausdruck gegeben hat, kann man mit dem Erscheinen des Films nicht umhin, die konservative Tendenz des Buchs, seine liebevolle Referenz an ein Leben vor der sexuellen Revolution, vor dem EU-Beitritt Großbritanniens 1972, vor der Globalisierung, unangenehmer zu empfinden als bei dessen Erscheinen. Wobei man allerdings nicht vergessen sollte, das „Ethel & Ernest“ an erster Stelle eine sehr persönliche Geschichte ist: die liebevolle Verbeugung eines Kindes gegenüber seinen Eltern, deren stille Lebensleistung, durch ein zuverlässiges Berufs- und Familienleben über gut vier Jahrzehnte sozusagen das Salz der britischen Erde zu sein, zuvor niemandem aufgefallen ist.

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