Warten auf Schwalben

Drama | Algerien/Deutschland/Frankreich 2017 | 112 Minuten

Regie: Karim Moussaoui

Eine Frau entdeckt auf der Fahrt zu ihrer Hochzeit Gefühle für einen anderen, ein Arzt wird mit verdrängter Schuld konfrontiert, ein älterer Mann greift nicht in eine Schlägerei ein. Episodischer Film, der in drei Geschichten einen Blick auf das Leben im gegenwärtigen Algerien wirft und Facetten eines Landes herausarbeitet, das sich zwischen Tradition und Moderne bewegt, aber das Grauen des Bürgerkriegs aus den 1990er-Jahren noch nicht abgestreift hat. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
EN ATTENDANT LES HIRONDELLES
Produktionsland
Algerien/Deutschland/Frankreich
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Les Films Pelléas/NiKo Film/Prolégomènes/ARTE France/MK2 Films/CADC
Regie
Karim Moussaoui
Buch
Maud Ameline · Karim Moussaoui
Kamera
David Chambille
Schnitt
Thomas Marchand
Darsteller
Mohamed Djouhri (Mourad) · Hania Amar (Aïcha) · Hassan Kachach (Dahman) · Mehdi Ramdani (Djalil) · Nadia Kaci (Eine Frau)
Länge
112 Minuten
Kinostart
23.08.2018
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
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Episodischer Film, der in drei Geschichten einen Blick auf das Leben im gegenwärtigen Algerien wirft, das zwischen Tradition, Moderne und der Erinnerung an den Bürgerkrieg der 1990er-Jahre schwebt.

Diskussion

Die Autofahrt führt über ärmliche Vorortstraßen, an unverputzten Betonfassaden entlang, durch Neubauviertel bis ins Zentrum von Algier mit seinen Alleen und geschichtsträchtigen Stadthäusern. Am Steuer sitzt ein Mann um die 60. Er trägt Schnauzer, Pilotenbrille und einen Ring am kleinen Finger. Mourad ist Bauunternehmer und besucht seine Ex-Frau, die in hellen Zimmern lebt.

Von der vernachlässigten Peripherie mitten hinein in eine großbürgerliche Wohnung: Bereits mit der Eingangssequenz entwirft der algerische Regisseur Karim Moussaoui ein Panorama seines Heimatlandes. Mit wenigen Bildern blättert er auf, wie unterschiedlich Menschen hier leben, wie das Land Zukunft will und Gegenwart und Vergangenes sich überlagern.

Algerien blickt auf eine lange Kolonialgeschichte zurück, auf einen blutigen Unabhängigkeitskampf und einen Bürgerkrieg, der 1991 begann und zehn Jahre lang die Region mit Terror, Folter und Massenmorden überzog. Das nordafrikanische Land hat viel zu erzählen, doch auf der kinematografischen Landkarte ist es fast noch unentdeckt. Das hat auch damit zu tun, dass die Produktionsbedingungen nach den jüngsten gesellschaftlichen Umbrüchen schwierig sind und es keine klassische Filmausbildung mehr gibt.

Der 1976 geborene Regisseur Karim Moussaoui zählt zu jenen, die die algerische Kinokultur wiederbeleben wollen, indem sie Filmclubs gründen und einheimische Produktionen zeigen. Sein Debütfilm spielt in der Gegenwart. Drei Episoden erzählen von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Generationen. Einer von ihnen ist Mourad, der mit den Befindlichkeiten und Unzufriedenheiten in seiner Familie umzugehen weiß, aber innerlich wie vom Leben glatt gerieben wirkt. Früher muss er einmal einer gewesen sein, der sich einmischte. Auch jetzt will er vieles noch verstehen, zum Beispiel seinen Sohn, der sich und sein Medizinstudium aufgibt. Doch als er bei einer nächtlichen Autofahrt beobachtet, wie ein Mann brutal zusammengeschlagen wird, erstarrt er. Mourad stiehlt sich davon, ruft nicht einmal die Polizei.

So wie er geraten auch die anderen Figuren in ein Dilemma und müssen schwierige Entscheidungen treffen. Eine junge Frau will in der Provinz einen älteren Mann heiraten, doch auf der Reise dorthin wird sie mit den Gefühlen für einen anderen konfrontiert. Ein aufstrebender Neurologe muss sich kurz vor seiner Hochzeit mit einem verdrängten Ereignis auseinandersetzen. In den 1990er-Jahren hatte er die fortdauernde Vergewaltigung einer Frau durch islamistische Terroristen nicht verhindert. Ist auch er ein Täter? Wie kann er seine Schuld begleichen?

Während die Episode um den Neurologen konkret Bezug auf das Grauen des Bürgerkriegs Bezug nimmt, lassen die anderen Geschichten viel Raum für eigene Interpretationen, was man dem Film, je nach Standpunkt, als Manko oder als großes Plus anrechnen kann. Der Regisseur erhellt Momente im Leben unterschiedlicher Menschen und zeigt die Bandbreite gegenwärtiger Lebensrealitäten in seinem Heimatland auf.

Was die Frauen und Männer neben den Gewissenskonflikten eint, ist eine gewisse Melancholie, ein Gefangensein im Privaten. An der Gesellschaft kann man wie Mourads Ex-Frau verzweifeln. Oder sich an ihr abarbeiten, um einen gutsituierten Platz zu finden wie der Arzt Dahman. Aber kann man sie ändern?

Bachs Kirchenkantate „Ich habe genug“ zieht sich beinahe schon leitmotivisch durch den Film. Abgesehen davon sucht man aber vergeblich nach einem roten Faden, der die drei Geschichten bündeln würde. Es gibt nur wenige direkte Berührungspunkte, etwa wenn sich Mourad und Dahman zufällig bei einer Tagung treffen. Auf den Menschen lastet eine Schwere; die Ankunft der Schwalben scheint noch fern. Nur die Musik birgt Freiheit, etwa wenn sich zwei Menschen als heimliches Liebespaar umtanzen, wenn eine Hochzeitsgesellschaft fröhlich feiert oder wenn mitten in der Wüste aus dem Nichts ausgelassene Musiker und Tänzerinnen auftauchen und einen Hauch Optimismus verbreiten.

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