Dokumentarfilm | Deutschland 2018 | 80 Minuten

Regie: Johanna Sunder-Plassmann

Ausgehend von persönlichen, mit Erinnerungen aufgeladenen Gegenständen erzählen vier Obdachlose, die in Köln auf der Straße leben, aus ihrem Leben. Der Film interessiert sich allerdings weniger für Wohnungslosigkeit in Deutschland als für einen Perspektivwechsel beziehungsweise eine Gegenerzählung zum Standard der Sozialreportage. Die Objekte werden dabei immer wieder zu Artefakten überhöht und zu kunstvollen Anordnungen arrangiert. Ein interessanter Ansatz, dem mitunter jedoch der Bezug zu den Protagonisten abhandenkommt. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
unafilm
Regie
Johanna Sunder-Plassmann · Tama Tobias-Macht
Buch
Johanna Sunder-Plassmann · Tama Tobias-Macht
Kamera
Sophie Maintigneux
Schnitt
Johanna Sunder-Plassmann · Tama Tobias-Macht
Länge
80 Minuten
Kinostart
30.08.2018
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Porträt von vier Kölner Obdachlosen, das ausgehend von persönlichen, mit Erinnerungen aufgeladenen Gegenständen eine Gegenerzählung zur üblichen Sozialreportage versucht.

Diskussion
In dem unter einer Brücke eingerichtetem Lager von Elvis hat jeder Gegenstand seinen Platz. „Ich will da nicht so ein Gekruschtel da rumliegen haben“, erklärt der 71-jährige Mann mit den schlohweißen Haaren, dessen Finger sieben Totenkopfringe zieren. Elvis streicht sorgfältig seinen FC Köln-Schal auf einem improvisierten Tisch glatt; schon hat er eine Tischdecke – und eine Unterlage für seinen kleinen Blumentopf. Auf dem gerade gemachten Bett arrangiert er weitere Fanschals und ein rotes Kissen in Herzform. Ordnung halten, das hat er im Heim gelernt. Die Dokumentaristinnen Tama Tobias-Macht und Johanna Sunder-Plassmann porträtieren vier Obdachlose, die in Köln auf der Straße leben. Schon in der ersten Szene fällt dabei ihr ausgeprägtes Interesse für die Objektwelt auf, für kräftige Farben und eine sorgfältige Bildkomposition. Zum Gestus und dem visuellen Stil landläufiger Sozialreportage mit entsättigten, eher schmutzigen Bildern gehen die Filmemacherinnen programmatisch auf Distanz. Für die ausgewählte Bildgestaltung zeichnet die Kamerafrau Sophie Maintigneux verantwortlich. „Draußen“ geht es nicht um ein Bild der Obdachlosigkeit in Deutschland. Über den Alltag der Männer erfährt man wenig. Mit den vier Protagonisten haben sich die beiden Filmemacherinnen Figuren ausgesucht, die ihr Leben relativ organisiert auf der Straße leben. Tobias-Macht und Sunder-Plassmann geht es vor allem um den Perspektivwechsel. Dafür haben sie einen eigenwilligen Ansatz gewählt. Ausgehend von den persönlichen Gegenständen, die, unserem Blick verborgen, in Rucksäcken, Plastiktüten und Einkaufswagen verwahrt werden, entwickeln sich die Lebenserzählungen der Männer. Elvis, der Jeans, Schlangenlederboots und einen Stetson trägt, zählt 64 CDs und zahlreiche Elvis-Devotionalien sein Eigentum; ohne die Musik von Elvis würde er sich hängenlassen und trinken, erzählt er. Matse ist schon viel rumgekommen. In einem Buch hat er jeden seiner Aufenthalte mit genauen Ort- und Zeitangaben festgehalten. Sein Lager, das er äußerst professionell aus Camouflage-Planen in meist waldigen Gegenden aufschlägt, hat fast etwas Guerillaartiges. Der Überlebenskünstler rechnet vor, dass er sich mit vier Pfandflaschen die Haferflockenration für einen ganzen Tag kaufen kann. Zum selbstgebrühten Kaffee isst er ein Überraschungsei. Einmal illustriert er mit Ästen den Grundriss seiner ehemaligen Wohnung: hier die Sofas, da das Kaninchengehege, zahlreiche Sitz- und Schlafgelegenheiten, die die meiste Zeit belegt waren. Irgendwann ist er abgehauen, „die falschen Freunde“. Zu seiner Familie hält er Kontakt über Facebook, wo er ab und zu auch seine Zeichnungen postet – Vögel, Blumen, Abgezeichnetes aus seiner kleinen, vom Großvater vererbten Bibliothek: „Essbares aus der Natur“, „Pilze“ et cetera. Peter und Sergio, der aus Kasachstan nach Deutschland kam und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in die Illegalität abdrifteten, teilen sich ein Zelt. Auch Peter, Vater dreier Kinder, war im Knast. Unter anderem hat er auf dem Strich Homosexuelle ausgeraubt – bis zur Abschaffung des Paragrafen 175 musste er keine Anzeige fürchten. Peter zeigt seinen Schottenrock, Sergio seinen Kalender von der JVA Stammheim. Zu seinen Habseligkeiten gehört auch das Spritzbesteck. Sergio ist süchtig; schon als Zwölfjähriger hat er Drogen genommen. Die Regisseurinnen zäsurieren ihren Film immer wieder in Form von Bildstrecken. Dafür haben sie die Habseligkeiten der Männer wie in Museumsvitrinen arrangiert. Die Kamera streift über die auf dem Fußboden ausgebreiteten Dinge; manches hängt an unsichtbaren Fäden in den Bäumen und wird von der Kamera kunstvoll umkreist. Der Film reißt die Objekte aus dem Kontext ihres täglichen Gebrauchs und überhöht sie zu Artefakten. Später sind sie sogar Teil von theatralen, perfekt ausgeleuchteten Settings, in denen die Protagonisten nur noch wie Statisten erscheinen. Die Grenze zum Kitsch ist nah. Mit verfremdenden Mitteln sucht „Draußen“ nach einer Gegenerzählung zu den verbreiteten Bildern. Die Welt der Wohnungslosen soll einen Moment lang schimmern und glänzen, da, wo kein Schimmer und Glanz ist. Das Problem ist dabei weniger die ästhetische Aufladung als vielmehr eine Form der Entleerung. Die Objekte verlieren ihre Erzählkraft. Sie haben schlichtweg nichts mehr mit Sergio, Matse, Peter und Elvis zu tun.
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