Dokumentarfilm | Deutschland 2017 | 112 Minuten

Regie: Christoph Hübner

Fünf Nachfahren von NS-Tätern und zwei von Holocaust-Überlebenden erzählen in analytisch-ruhigen Gesprächen über ihr emotional wie kognitiv komplexes Dasein als Nachgeborene. Der formal strenge, ebenso puristische wie assoziative Dokumentarfilm sieht ihnen in langen, einen genauen Blick fordernden Einstellungen beim Erinnern, Denken und sich Offenbaren zu. Unterlegt sind die Gespräche mit Bildern aus der Berliner „Topographie des Terrors“-Ausstellung oder der KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Durch die Montage treten Querverbindungen hervor, die das Erinnern der NS-Verbrechen als bleibende öffentliche Aufgabe sichtbar machen. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Christoph Hübner Filmprod.
Regie
Christoph Hübner · Gabriele Voss
Buch
Christoph Hübner · Gabriele Voss
Kamera
Christoph Hübner
Musik
Gilad Hochman
Schnitt
Gabriele Voss
Länge
112 Minuten
Kinostart
27.09.2018
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Heimkino

Auf DVD zusammen mit dem Dokumentarfilm "Nachlass - Passagen" erschienen.

Verleih DVD
Film Kino Text/375 Media (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
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Formal strenger, puristisch und assoziativ gehaltener Dokumentarfilm über das emotional wie kognitiv komplexe Dasein als Nachgeborene, das anhand von Gesprächen mit fünf Nachfahren von NS-Tätern und zwei von Holocaust-Überlebenden erforscht wird.

Diskussion
Ein hagerer Mann holt mit stummer Miene einen schwarzen Lederkoffer aus der Ecke. „Der hat einiges Gewicht“, hört man ihn aus dem Off. Auf die unmittelbare Frage des Regisseurs Christoph Hübner, den Inhalt des Koffers gegenüber der Kamera zu beschreiben, antwortet der Mann seltsam abgehakt: „Papiere, die mein Vater im Safe oder im Schreibtisch gehabt hat... Das waren Vorladungen zu Vernehmungen durch diverse Staatsanwaltschaften... Notizen, die mein Vater während der Vernehmungen gemacht hat... Beschluss des Landgerichts Kiel von 1961, wo er wegen Mordes angeklagt war und dann außer Strafverfolgung gesetzt wurde.“ In dieser kurzen, extrem einprägsamen Szene aus dem Dokumentarfilm „Nachlass“ von Christoph Hübner und Gabriele Voss manifestiert sich das ganze Dilemma zwischen Mitgliedern der politisierten 1968er-Generation und ihren verstummten oder inzwischen toten Vätern aus der sogenannten „NS-Tätergeneration“, die zwischen 1933 bis 1945 nicht selten tausendfach zu Massenmördern wurden. Diesen tiefen Graben zwischen den Generationen konnte bislang noch keiner zuschütten. Wie konnte es passieren, dass junge, freundlich aussehende Männer in Uniform in einem Moment rührselige Postkarten an ihre Familien zuhause schicken und im nächsten als Angehörige eines „Sonderkommandos“ oder einer „Einsatzgruppe“ tausende Juden an der Donau erschossen? Am selben Tag wohlgemerkt, oft innerhalb weniger Stunden, wie Adi Kantor, eine israelische Historikerin und Enkelin eines Auschwitz-Überlebenden, während einer Führung durch die „Topographie des Terrors“-Ausstellung in Berlin erzählt. „Hatten diese Männer eine Wahl?“, möchte Kantor von der überwiegend englischsprachigen Gruppe wissen. „Ja, auf jeden Fall. Man hat immer eine Wahl.“ – „Nein, natürlich nicht. Er wäre wahrscheinlich als nächster dran gewesen, wenn er seine Befehle nicht ausgeführt hätte.“ So unterschiedlich wie hier die Antworten ausfallen, so offen ist der Film gestaltet. Das Motto des Dokumentarfilmer-Duos Hübner/Voss, wonach „der Dokumentarfilm das Offene sucht und oft selbst nicht weiß, was am Ende steht“, wird in „Nachlass“ mit langen, einen genauen Blick einfordernden Einstellungen umgesetzt. Ohne moralische Wertungen oder Vorverurteilungen interviewen sie fünf Nachkommen von NS-Tätern und zwei von Holocaust-Überlebenden. In analytisch-ruhigen, präzise geführten Gesprächen, zeitweise von stummen Bildern aus der „Topographie des Terrors“-Ausstellung oder der KZ-Gedenkstätte Buchenwald unterlegt, sieht der Film den Kindern und Kindeskindern von NS-Tätern wie Opfern minutenlang beim Denken, Erinnern und sich Offenbaren zu. Frei von jedem Voyeurismus und in starkem Kontrast zu reißerischen „Oral History“-Formaten eröffnet diese formal-ästhetisch strenge Anordnung dramaturgisch den Raum, weil sie sehr viel Zeit lässt und schnelle Antworten damit überflüssig macht. Wenn Kantor Fotos zeigt, die sie im Vernichtungslager Auschwitz gemacht, in dem ihr eigener Großvater war, und sie im nächsten Moment auf Party-Bilder vom selben Tag weiterklickt, auf denen sie abends mit jungen deutschen Historikern zu sehen ist, dauert der erläuternde O-Ton dazu neun Minuten! Wo gibt es das sonst noch im gegenwärtigen Dokumentarfilmschaffen? Vor der Kamera wird hier eindringlich erzählt und mit offenem Impetus nachgedacht, gleichzeitig aber auch gelacht und geweint, bisweilen innerhalb einer einzigen Sequenz. Gerade in der krassen Kontrastierung dieser Fotos aus dem KZ und der abendlichen Feier, die sozusagen ohne Vorwarnung aufeinanderfolgen, gewinnt „Nachlass“ seine enorme Stärke, weil dadurch ein Bogen zur Gegenwart und den nachfolgenden Generationen geschlagen wird. Ein anderer der Protagonisten ist heute Maler und ebenfalls Enkel eines NS-Täters, der als namhafter Jagdbomberpilot von Hitler persönlich auf dem Obersalzberg reihenweise mit Orden geehrt wurde. Er hat eines seiner Bild „Nachlass – lass nach!“ betitelt, das sich offen mit der komplexen Gefühlswelt der Nachgeborenen auseinandersetzt. Nach intensiver Beschäftigung mit der Vita seines Großvaters sucht er mittlerweile mehr Abstand zu diesem Teil seiner Familiengeschichte. Nur wie? Der Clou der beeindruckenden Montage von Gabriele Voss ist, dass sich die Interviewten – ohne sich persönlich näher zu kennen – im Film begegnen: durch ihre Ängste und Traumata sowie die nach wie vor bohrenden Fragen über die (Mit-)Täterschaft ihrer Angehörigen. So kreiert der Film zahlreiche Querverbindungen zwischen den Porträtierten, wodurch „Nachlass“ implizit auch von dem Wunsch handelt, Brücken zu bauen, anstatt unentwegt zu mauern oder den historischen Mantel des Schweigens weiter auszubreiten. Der gleichermaßen puristische wie assoziative Dokumentarfilm funktioniert wie eine offene Tür zu einem Denkraum: Jede(r) soll sich aus dem Gehörten und Gesehenen seine eigene Meinung bilden. Einfache Lösungen sind dabei ausgeschlossen, da „Nachlass“ aufs Eindrücklichste beweist, dass die Erinnerungskultur an Nazi-Terror und Shoah nicht nur eine Frage der öffentlichen Bewusstseinspflege in Form von Museen oder Gedenkstätten ist. Vielmehr spielt sie abseits der Geschichtsbücher in persönlichen Erinnerungen und der privaten Auseinandersetzung mit der eigenen Familie mindestens eine ebenso große Rolle: Das „Private“ kann hier erneut sehr schnell sehr politisch werden. Denn vielleicht ruht schon im nächsten Nachlass eines Verwandten ein Foto des eigenen Vaters in SS-Uniform.
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