Dokumentarfilm | Deutschland 2017 | 88 Minuten

Regie: Mark Michel

Außergewöhnlich einfühlsam gestalteter Dokumentarfilm über eine junge autistische und körperlich behinderte Frau, die nicht laufen und nicht sprechen kann, weshalb sie auf fremde Hilfe angewiesen ist. Der auf leise Töne und sinnliche Bilder setzende Film zeigt jedoch, wie feinfühlig sie ihre Umwelt wahrnimmt, wie sie mit Hilfe ihrer Mutter in Gestalt von Gedichten und Geschichten mit anderen kommuniziert und wie sie trotz aller Beeinträchtigungen ein Studium aufnehmen konnte. Die eindringlichen Texte der Protagonistin finden kongeniale bildsprachliche Entsprechungen, sodass dem essayhaften Porträt eine bemerkenswert dichte Annäherung an eine komplexe Gedankenwelt gelingt. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik filmfriend

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Worklights Media
Regie
Mark Michel
Buch
Mark Michel · Veronika Raila
Kamera
Ines Thomsen
Musik
Alex Komlew
Schnitt
Andreas Baltschun · Ed van Megen
Länge
88 Minuten
Kinostart
18.10.2018
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Außergewöhnlich einfühlsam gestalteter und auch formal herausragender Dokumentarfilm über eine junge autistische und körperlich behinderte Frau, die jedoch feinfühlig ihre Umwelt wahrnimmt, mit Hilfestellung kommunizieren kann und eigene Gedichte verfasst.

Diskussion
„Jeder Mensch ist eine Reise. Mark, ich lebe in Sinnräumen.“ Was die schwerbehinderte Protagonistin Veronika Raila, der die Ärzte bei ihrer Geburt einen Intelligenzquotienten von Null attestiert hatten, einmal in einer kurzen Email-Korrespondenz an den Regisseur Mark Michel schreibt, umreißt im Grunde schon den gesamten, sehr einfühlsam inszenierten Dokumentarfilmkosmos von „Sandmädchen“, der von Beginn an auf leise Töne und sinnliche Kameraeinstellungen setzt, um tiefer in Veronikas komplexe Gedankenwelt eintauchen und ihren sehr speziellen Alltag irgendwie erfassbarer machen zu können. Der Leipziger Regisseur Mark Michel, der diese kleine Dokumentarfilmperle per Crowdfunding und nur mit wenigen Sponsoren realisiert und in lange nachklingende Kinobilder übersetzt hat, hatte diese ebenso starke wie ungewöhnliche Protagonistin vor „Sandmädchen“ bereits im Rahmen seines Kurzfilms („Veronika“) kennengelernt, der auf 60 Festivals gezeigt worden war. Im Zentrum seines Filmpoems steht von Beginn an Veronika Raila. Die 25-jährige Frau kann von allein weder aufstehen noch sich anziehen oder eine Gabel in die Hand nehmen. Trotzdem hat sie zusammen mit ihrer Mutter Petra inzwischen eine Möglichkeit gefunden, per selbst entwickelter Zeichen- und Symbolsprache nicht nur mit ihren Eltern, sondern auch mit anderen Menschen stetig leichter in einen Dialog treten zu können. Dazu schreibt sie sich beinahe permanent ihre Gedanken („Ich bin geboren um zu fühlen“) und Ängste („Ich habe mich selbst als Monster wahrgenommen“) von der Seele, indem sie mit Hilfe ihrer Mutter auf eine Tastatur tippt: Wer bin ich – und in welchem Körper lebe ich? Warum haben zu Beginn meines Lebens alle immerzu über mich hinweggesehen, „wie wenn ich Luft wäre“? Ihrer eigenen Mutter erging es anfangs ganz ähnlich: „Wir haben dann eine 180-Grad-Wendung gemacht.“ Heute fördert sie „Vroni“, wie sie ihre Tochter nennt, tagtäglich als beständige Mentorin, Freundin, Mutter und Lehrerin. Überhaupt war es auch erst durch das beharrliche Engagement ihrer Eltern Petra und Uwe für Veronika möglich, ein Gymnasium zu besuchen. Heute studiert sie als „normal“ immatrikulierte Studentin an der Universität Augsburg Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Katholische Theologie. Besonders Franz Kafkas anspruchsvolle Literatur hat es ihr angetan: Für dessen metaphernreiche Sprache hat die junge Schwäbin ein besonderes Faible, weil sie sich darin wie im Falle von „Die Verwandlung“ nach eigener Aussage sehr oft selbst erkennt. Wenngleich sie die entsprechende Fachliteratur in der Universitätsbibliothek niemals selbst aus den Regalen nehmen kann, sondern nur mit Hilfe ihrer assistierenden Mutter, so verfügt Veronika doch über eine andere seltene Gabe: Sie besaß früh ein fotografisches Gedächtnis und konnte mit dieser Methodik bereits als Schülerin in kompletten Büchern „herumblättern“, was ihr nun auch im Studium extrem hilft. Außerdem ist es der Nachwuchsautorin via „gestützter Kommunikation“ gelungen, eine äußere Plattform für ihren innerlich wilden Gemütszustand zu finden, woraus bereits mehrere Lyrik- und Prosa-Publikationen entstanden. „Inseln der Wahrnehmung“, nennt Veronika ihren Schreibstil, der mit starken Allegorien arbeitet und auf komplexe Gedankenverknüpfungen setzt, wofür Mark Michel auch in bildsprachlicher Hinsicht viele gelungene Assoziationen findet. In diesen eindringlichen Texten, die passagenweise Eingang in Michels Film gefunden haben, kämpft Veronika nicht nur mit sich und ihren spezifischen Lebensbedingungen, sondern mindestens genauso mit ihrer oftmals viel zu lauten Umwelt: „Ich habe nur das Schreiben, um mich mitzuteilen, das Schreiben, um meine Gefühle und Gedanken auszudrücken. Das Schreiben ist meine Verbindung zur Außenwelt – hätte ich dieses Schreiben nicht, würde ich in der Tiefe eines vergessenen Brunnens sitzen.“ Denn Veronika Raila ist nicht nur körperlich mehrfach beeinträchtigt, sondern sie lebt auch zugleich mit einer besonderen Form des Asperger-Syndroms, wodurch sie beispielsweise für Farben, Formen und Gerüche absolut hypersensibel ist, obwohl sie medizinisch betrachtet angeblich nur über ein sehr eingeschränktes Körpergefühl verfügt. Oder in den Worten der Protagonistin ausgedrückt: „In meiner Welt leuchten die Menschen, tanzen die Zahlen und klingen die Farben.“ Erzählt wird „Sandmädchen“ weder chronologisch noch bis zur Gegenwart, was diesem sehenswerten Dokumentarfilmessay bis zum Ende sowohl ästhetisch wie dramaturgisch eine faszinierende Form gibt, die zudem in immer wieder kurzen Sequenzen mit Close-ups der Protagonistin und enigmatischen Sandanimationen der Künstlerin Anne Loeper angereichert wird. Zusammen mit einer Reihe bemerkenswert poetischer Luftaufnahmen, die kitschfrei Veronikas Liebe zu den Naturphänomenen illustrieren, gelingt es Mark Michel außerdem, die Sinne des Betrachters zusätzlich zu schärfen und den Sprachduktus der Protagonistin in adäquate Filmbilder umzusetzen. „In meiner Welt kann ich fliegen“, hört man Veronikas Gedanken aus dem Off, die die Sprecherin Jana Wand mit glasklarer Stimme für die Porträtierte eingesprochen hat. Und am Ende von „Sandmädchen“ erlebt das der Zuschauer auch im übertragenen Sinn ganz deutlich, in einer Art modernem „Fitzcarraldo“-Moment, wo jeder plötzlich fliegen kann, und wenn es nur in Gedanken ist. Denn obwohl ihre Mutter zuerst dagegen ist, Veronikas Ur-Wunsch, einmal alleine in einer Sanddüne den Wind spüren zu können, in Szene zu setzen, gelingt dem Filmteam doch noch die Erfüllung dieser Sehnsucht: In den gigantischen Wanderdünen von Łeba an der polnischen Ostseeküste. Spätestens hier schwebt der Zuschauer mit Veronika – und ein Stück weit in ihren Gedanken.
Kommentar verfassen

Kommentieren