Drama | USA/Norwegen/Island 2018 | 136 Minuten

Regie: Paul Greengrass

Am 22. Juli 2011 zündet der norwegische Rechtsradikale Anders Behring Breivik im Regierungsviertel von Oslo eine Bombe und richtet anschließend auf der Insel Utøya in einem Jugendcamp ein Massaker an. Die chronologisch strukturierte Fiktionalisierung des Attentats rückt das Schicksal eines Jugendlichen und dessen Familie ins Zentrum, spart aber auch den Täter und seine Motive sowie die Reaktionen von Politik und Polizei nicht aus und gibt überdies dem Prozess gegen Breivik nach der Tat breiten Raum. Der Film springt häufig zwischen verschiedenen Handlungsorten und Personen hin und her und schafft damit eine umfängliche Annäherung und Aufarbeitung der grausamen Ereignisse, bei der die Betroffenen und der Rechtsstaat das letzte Wort behalten. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
22 JULY
Produktionsland
USA/Norwegen/Island
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Scott Rudin Productions
Regie
Paul Greengrass
Buch
Paul Greengrass
Kamera
Pål Ulvik Rokseth
Musik
Sune Martin
Schnitt
William Goldenberg
Darsteller
Anders Danielsen Lie (Anders Behring Breivik) · Jonas Strand Gravli (Viljar Hanssen) · Jon Øigarden (Geir Lippestad) · Ola G. Furuseth (Jens Stoltenberg) · Isak Bakli Aglen (Torje Hanssen)
Länge
136 Minuten
Kinostart
05.10.2018
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Thriller

Vielstimmige filmische Nacherzählung der norwegischen Terroranschläge 2011 druch den britischen Regisseur Paul Greengrass, dem eine umfängliche Annäherung und Aufarbeitung der grausamen Ereignisse und ihrer Folgen gelingt.

Diskussion

Am Anfang sieht man eine einsame Hütte in den Wäldern und Anders Behring Breivik, wie er dort jene Tat vorbereitet, die den 22. Juli 2011 für Norwegen zu einem ähnlich einschneidenden Datum werden ließ wie den 11. September 2001 für die USA. Breivik präpariert Sprengstoff, lädt eine selbst gebastelte Bombe und Schusswaffen in einen Lieferwagen und macht sich auf den Weg, erst nach Oslo, dann Richtung Utøya, um jene rechtsextremen Attacken zu begehen, denen 77 Menschen zum Opfer fallen.

Mit „Flug 93“ hat der britische Regisseur Paul Greengrass 2006 bereits einen Film über den Terroranschlag von 9/11 inszeniert: über den Flug jener United-93-Maschine, die im Gegensatz zu drei anderen von Al-Qaida entführten Passagierflugzeugen nicht als Waffe in das von den Terroristen ausersehene Ziel raste, sondern vorher auf einem Feld in Pennsylvania abstürzte, weil die Passagiere Widerstand leisteten. Wie jetzt auch in „22. Juli“ begann diese nüchterne, dokumentarisch anmutende Aufarbeitung jener Ereignisse damit, die Attentäter bei der Vorbereitung ihrer Tat zu zeigen. Als diejenigen, die alles initiieren, müssen sie in Greengrass’ erzählerischer Perspektive einer Chronik notwendigerweise am Anfang stehen. In „22. Juli“ ist das nicht anders.

Im Gegensatz zu Greengrass hat sich der norwegische Regisseur Erik Poppe in „Utøya 22. Juli“ entschieden, den Täter völlig auszublenden und sich ganz auf die Sicht der Opfer zu konzentrieren. Ein zwiespältiges Unterfangen, das als Einlassung auf die schrecklichen Geschehnisse auf Utøya zwar erschüttert, allerdings unter vollständiger Ausblendung des politischen Kontexts und mit dem unfreiwilligen Effekt, wie ein beliebiger Survival-Genre-Stoff rezipiert werden zu können.

Greengrass versucht demgegenüber die Ereignisse umfänglicher anzugehen; ähnlich wie in „Flug 93“ wechselt er häufig zwischen verschiedenen Handlungsorten und Personen hin und her. Sein Ansatz ist damit weniger emotional überwältigend, aber weitaus substanzieller. Gleichwohl bleibt auch bei Greengrass die Empathie nicht auf der Strecke. Die Opfer nehmen auch in „22. Juli“ einen großen Raum ein, und wie Poppe stellt er einen der Jugendlichen, die an dem Sommercamp der sozialdemokratischen Partei auf Utøya teilnehmen, als Identifikationsfigur in den Mittelpunkt. In der Figur des 17-jährigen Viljar Hanssen findet er einen Protagonisten, der anders als die fiktive Kaja bei Poppe an eine reale Person angelehnt ist. Anhand des Schicksals dieses engagierten, verantwortungsbewussten Jugendlichen, der während des Massakers vor allem seinen jüngeren Bruder beschützt und von Breivik durch mehrere Schüsse so schwer verletzt wird, dass er die Folgen sein Leben lang spüren wird, beleuchtet Greengrass, was Breiviks ideologischer „Krieg“ für die Opfer bedeutet.

Zugleich bezieht Greengrass aber auch den Bombenanschlag im Regierungsviertel von Oslo mit ein, den Poppe weitgehend ausblendet, sowie auch die Reaktionen der politischen Führungsspitze, von Einsatzkräften und Eltern. Und er schreckt auch nicht davor zurück, den Täter und seine Motivation zu analysieren. Interessant ist außerdem, dass Greengrass nicht nur von den Anschlägen erzählt, sondern auch den Reaktionen darauf viel Zeit einräumt: Die zweite Hälfte des Films handelt von den Ereignissen nach der Tat, vom Schock und den Traumata der Opfer und ihrer Familien sowie vom Prozess gegen Breivik.

Das ist eine sinnvolle Ausdehnung, die nicht wie paralysiert bei der schrecklichen Tat stehenbleibt, sondern der Gesellschaft, die Breivik ins Mark treffen wollte, ihre Handlungsmächtigkeit zurückgibt. Dass Viljar schließlich die Kraft findet, vor Gericht seinem Peiniger gegenüberzutreten und stellvertretend für jene, die auf Utøya gestorben sind, gegen Breivik auszusagen, nutzt Greengrass als Signal dafür, dass der Terror nicht das letzte Wort behält, sondern der Rechtsstaat.

Breiviks Anmaßung, der erste „Soldat“ in einem gegen die norwegische Elite und die von ihr beförderte „Islamisierung“ und „Überfremdung“ gerichteten Krieg zu sein, bleibt genau das – die manische Selbstrechtfertigung eines vereinsamten Einzeltäters. Aber natürlich gibt es in diesem Drama kein wirkliches „Happy End“. Denn weder wird Viljar Hanssen durch das Urteil gegen Breivik die Splitter in seinem Kopf los, noch lindert es die Trauer über die Toten oder merzt die rechte Ideologie aus, die Breiviks Tat inspiriert hat.

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