Lucica und ihre Kinder

Dokumentarfilm | Deutschland 2017 | 90 Minuten

Regie: Bettina Braun

Eine 29-jährige Roma migrierte in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für ihre sechs Kinder von Rumänien nach Deutschland. Der Dokumentarfilm begleitet die Familie, die in Dortmund in einer 1-Zimmer-Wohnung lebt, über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren. Dabei wird die Filmemacherin, die sich als Figur aktiv miteinbringt, für die alleinerziehende Mutter, aber auch für ihre Kinder zur engen Vertrauten. Der Film zeichnet die bedrängte Lebensrealität der Familie nach, macht aber auch die Bedingungen eines solchen Nahverhältnisses zwischen Filmemacherin und Protagonisten anschaulich. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
B.Braun Prod./ZDF/3sat
Regie
Bettina Braun
Buch
Bettina Braun
Kamera
Jennifer Günther · Beate Scherer
Schnitt
Gesa Marten · Bettina Braun
Länge
90 Minuten
Kinostart
22.11.2018
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion

Intimer Dokumentarfilm über eine 29-jährige Rumänin, die in Dortmund mit sechs Kindern in einer 1-Zimmer-Wohnung lebt. Der über eineinhalb Jahre gedrehte Film zeigt die bedrängte Lage der Familie und die schwierige Situation zwischen Filmemacherin und Protagonistin.

„Heimat neu entdecken“, steht auf einer Plastiktüte zu lesen, die in der kleinen Dortmunder 1-Zimmer-Wohnung für die Reise nach Rumänien gepackt wird. Der Slogan wirkt wie ein bitterer Kommentar zu der extrem prekären Lebensrealität von Lucicas Familie. Denn zuvor sah man die 29-jährige Mutter, die mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft für ihre sechs Kinder nach Deutschland ausgewandert ist, hilflos durch einen Berg Papiere blättern. Lucica ist mit Zahlungen in Rückstand. Einer der Briefe droht an, dass der Strom abgestellt wird. Ihr Mann, der wegen Diebstahl in Deutschland im Gefängnis sitzt, soll abgeschoben werden. Zudem gibt es Spannungen im Haus, die sich an Lärm, der offen stehenden Wohnungstür und ein paar Stühlen vor der Erdgeschosswohnung entzünden. Doch vor allem fehlt es an Geld: für Essen, Papiere, feste Schuhe. So kommt es, dass die jüngste Tochter Marta nicht mit nach Deutschland zurückkehren kann und bei der Familie in Rumänien bleiben muss – es ist kein Geld da für Pass, Ticket und Geburtsurkunde.

Nach ihrem halbstündigen Reportage-Film „Nordstadtkinder – Stefan“ (2015), in dem sie Lucicas ältesten Sohn Stefan porträtierte (tatsächlich ist er der zweitälteste; im aktuellen Film taucht plötzlich ein weiterer Sohn auf, der zunächst noch in Rumänien lebt), nimmt die Dokumentarfilmerin Bettina Braun in „Lucica und ihre Kinder“ die gesamte Roma-Familie in den Blick. Rund drei Jahre sind seit „Nordstadtkinder“ vergangen, was auch das Vertrauensverhältnis zwischen Protagonistin und Filmemacherin erklärt. Genau das rückt während der Drehzeit des Films, die sich über eineinhalb Jahre erstreckt, immer mehr in den Vordergrund.

„Lucica und ihre Kinder“ ist eine Alltagsbeobachtung aus der extremen Nahsicht. Etabliert wird dieses Blickverhältnis gleich in der ersten Szene: Wenn Lucica zu ihrer Putzstelle geht, bleibt die Kamera mit den Kindern zu Hause, die sich gemeinsam auf dem einzigen Bett tummeln, um die Jüngsten zum Schlafen zu bringen. Braun ist auch in der Schule dabei, im Unterricht, bei Elterngesprächen, auf den Nachhausewegen; sie ist Zeugin von Spielen und kindlichem Geplauder, und sie fährt mit nach Rumänien, wo Daniel, der Ehemann und Vater, in Empfang genommen wird.

Die Regisseurin wird zur Positionierung gezwungen

„Dabeisein“ bedeutet hier jedoch weit mehr als bloße Präsenz. Braun mischt sich ein und wird umgekehrt immer wieder adressiert. „Stefan, was bedrückt dich?“, fragt sie etwa, oder: „Was sagst du dazu?“ In einem Gespräch kommt heraus, dass sie wiederholt mit kleineren Geldbeträgen ausgeholfen hat. Lucica nennt sie „die Filmfrau“, aber auch Schwester, Mutter und Freundin. In diesem Moment markiert Braun aber sehr eindeutig ihre Position als Filmemacherin: „Lucica, I’m not your family.“

Trotz oder gerade wegen der schwierigen Lage erweist sich Lucicas Familie als funktionierender und äußerst solidarischer Organismus. Die Kinder helfen sich gegenseitig; Stefan, der am besten von allen Deutsch spricht, übersetzt für die Mutter und die jüngeren Geschwister. Ihre Neugierde und ihr unbändiger Lernwille bringen eine Leichtigkeit in die eher drückende Alltagsbeschreibung. Als es darum geht, die jüngste Tochter nach Deutschland zu holen, verschärft sich jedoch die Situation. „Du musst jemanden finden, der dir hilft. Aber das kann nicht ich sein“, stellt Braun klar. Irgendwann ist tatsächlich der Strom abgestellt. Man lebt ohne Kühlschrank, die Wäsche wird in der Badewanne gewaschen, abends brennt Kerzenlicht. Eine Texteinblendung informiert über den Abbruch der Dreharbeiten – und über die Wiederaufnahme nach einem „Angebot“ von Lucica.

Als Beobachtung einer migrantischen Lebenssituation bleibt „Lucica und ihre Kinder“ mitunter etwas flüchtig – das Getriebe der deutschen Bürokratie wird beispielsweise nur gestreift –, doch in solcher Klarheit wurde noch selten die Frage nach den Bedingungen und Grenzen des „Tauschs“ gestellt, den ein Dokumentarfilm über ein solches Leben unweigerlich bedeutet.

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