Drama | Frankreich/Deutschland/Türkei 2018 | 96 Minuten

Regie: Gaya Jiji

Während des Arabischen Frühlings sehnt sich eine junge Frau in Damaskus nach Freiheit und Unabhängigkeit. Sie boykottiert die Pläne einer arrangierten Ehe und entzieht sich dem erstickenden Dasein durch Provokationen, Tagträume und die Freundschaft mit einer Bordellbetreiberin. Das Drama über den Drang nach Unabhängigkeit in einer patriarchalen Gesellschaft spielt überwiegend in Innenräumen, während das politische Geschehen im Hintergrund präsent bleibt. Während der Film mitunter schwülstig-poetisch ausfällt, halten ihn surreale Szenen und die ausgezeichnete Hauptdarstellerin zusammen. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MON TISSU PRÉFÉRÉ
Produktionsland
Frankreich/Deutschland/Türkei
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Gloria Films/Dublin Films/Katuh Studio/Les Films de la Capitaine/Liman Film/Das Kleine Fernsehspiel/ARTE
Regie
Gaya Jiji
Buch
Gaya Jiji
Kamera
Antoine Héberlé
Musik
Peer Kleinschmidt
Schnitt
Jeanne Oberson
Darsteller
Manal Issa (Nahla) · Ula Tabari (Jiji) · Souraya Baghdadi (Salwa) · Saad Lostan (Samir) · Adeeb Safadi (Salem)
Länge
96 Minuten
Kinostart
10.01.2019
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion

Mit poetischem Impetus inszeniertes Drama über weibliche Selbstermächtigung und den Drang nach Unabhängigkeit am Vorabend des Syrienkrieges.

Sie könne „nicht atmen“, wenn das Fenster nicht offen ist, antwortet Nahla den Mitfahrern im Kleinbus, die sich über die Zugluft beschweren. Das Baby hinter ihr ist ihr egal, und der Mann neben ihr sowieso: „Dann steige ich hier eben aus.“ Doch das will der Fahrer nicht, eine Frau allein in der Dunkelheit, an dieser Ecke. Also bleibt das Fenster geöffnet.

Der Beginn von „Mein liebster Stoff“ bündelt das autobiografisch gefärbte Filmdebüt der 1979 geborenen Regisseurin Gaya Jiji. Nahla sehnt sich nach Freiheit und Selbstbestimmung, doch sie lebt in einem Land, in dem das im Jahr 2011 noch schwieriger scheint als zuvor. Der Film spielt in Damaskus während des Arabischen Frühlings. Die Proteste werden blutig niedergeschlagen; Krieg liegt in der Luft.

Mit ihren drei Töchtern lebt die verwitwete Salwa in einer weitläufigen Wohnung. Dunkle Holzmöbel saugen das Licht auf, die Vorhänge sind meist zugezogen. Um die Zukunft der Familie zu sichern, will Salwa ihre älteste Tochter Nahla über eine arrangierte Ehe in die USA verheiraten. Später, so hofft Salwa, könnte dann die übrige Familie nachfolgen. Doch Nahla lässt den jungen Samir auflaufen, provoziert ihn. Er ist so gar nicht wie der schnauzbärtige Liebhaber, den sie in ihren Tagträumen ersehnt: wild, unabhängig und frei. Der Bewerber entscheidet sich dann schnell für Nahlas jüngere Schwester Myriam, die keine Widerworte gibt.

(Tag-)Träume lassen die Grenzen verschwimmen

Surreale Szenen sickern in die Erzählung, Nahlas (Tag-)Träume lassen die Grenzen verschwimmen. Archivmaterial illustriert das politische Geschehen im Hintergrund, Bild- und Tondokumente von Demonstrationen oder Reden. Ansonsten spielt der Film primär in Innenräumen und überwiegend in dem Haus, in dem Nahla mit ihrer Familie lebt. Ein Blick von oben zeigt das Treppenhaus, dass sich im gedämpft bläulichen Licht grotesk zuspitzt, wie auf einem Gemälde von M.C. Escher. Das Haus, das Leben im Halbdunkel, die Unmöglichkeit weiblicher sexueller Selbstbestimmung sind Nahlas Gefängnis.

Die französisch-libanesische Schauspielerin Manal Issa verkörpert Nahla überzeugend trotzig und postadoleszent. Sie drückt vieles mit Blicken und ihrer Mimik aus: Lächelnd und weich agiert sie in ihren hell ausgeleuchteten Träumen mit dem Liebhaber – hier trägt sie auch ein Negligee aus rosa Satin. Ein herausfordernder, manchmal auch überheblicher Zug spielt um ihren Mund, wenn sie Samir trifft oder sich mit ihrer Mutter streitet. Issa hält den Film auch dann zusammen, wenn dieser sich mitunter in schwülstig-raunender Poesie zu verlieren droht.

Ein naheliegender Ausweg aus der erstickenden Enge der Gesellschaft und der Familie scheint die Wohnung über der mütterlichen Bleibe zu sein. Dort ist vor kurzem Madame Jiji mit einem Bordell eingezogen. Wie Séverine in Luis Buñuels „Belle de Jour“ erkundet Nahla eine Welt, in der ihre Fantasien zu Hause sind – oder die in ihren Fantasien zu Hause ist. Der Stammgast, ein Soldat in Uniform mit schweren Stiefeln, lässt sich von den Prostituierten immer wieder die alttestamentarische Geschichte von Josef und seinen Brüdern erzählen. Nahla wandelt sie schließlich ab. Bei ihr setzt sich die Frau durch.

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