Drama | Indien 2018 | 97 Minuten

Regie: Ivan Ayr

In einer jungen Polizistin in Delhi schwelt ein latenter, immer wieder eruptiv ausbrechender Zorn über den Sexismus, dem sie beruflich und privat begegnet und der sich in verschiedensten Formen von Belästigungen und gewaltsamen Übergriffen zeigt. Ihre Vorgesetzte mahnt sie zu Zurückhaltung und versucht, ihr gleichzeitig den Rücken zu decken, steht aber ihrerseits unter massivem Druck von Seiten männlicher Vorgesetzter. In Form eines sozialrealistisch inszenierten Krimi-Dramas in langen Einstellungen lotet das Drama sein Thema vielschichtig aus und entwirft das Bild eines urbanen Indiens, in dem sich das patriarchalische Geschlechterbild zwar langsam wandelt und Frauen sich emanzipieren, gleichzeitig jedoch noch der Druck der Traditionen auf ihnen lastet und zudem misogyne Gewalt an der Tagesordnung ist. Dabei besticht der Film durch zwei sorgfältig in einen detailliert gestalteten sozialen Hintergrund eingebettete Frauenfiguren. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SONI
Produktionsland
Indien
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Jabberwockee Talkies
Regie
Ivan Ayr
Buch
Ivan Ayr · Kislay Kislay
Kamera
David Bolen
Schnitt
Ivan Ayr
Darsteller
Geetika Vidya Ohlyan (Soni) · Saloni Batra (Kalpana) · Vikas Shukla (Naveen) · Mohit Chauhan (Sandeep) · Gauri Chakraborty (Huma)
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Krimi
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Diskussion

2012 griffen sechs Männer in einem Bus in Delhi ein junges Paar an, schlugen den Mann bewusstlos und vergewaltigten und quälten die Frau so brutal, dass sie an den Folgen der inneren Verletzungen einige Tage später verstarb. Dieses Verbrechen, das weltweit für Schlagzeilen sorgte und in Indien landesweite Proteste und Demonstrationen gegen Belästigung und Gewalt an Frauen auslöste, war gewissermaßen die Initialzündung für den Debütfilm des indischen Regisseurs Ivan Ayr; seitdem arbeitete das Thema in dem jungen Filmemacher, bis es schließlich in "Soni" Gestalt annahm. Darin fokussiert Ayr jedoch nicht auf die skandalöse Gruppenvergewaltigung selbst, die nur die Spitze des Eisbergs ist, sondern auf das, was darunter liegt: In Form eines hochspannenden Noir-Polizeidramas um zwei weibliche Cops liefert er eine vielschichtige Bestandsaufnahme zum Geschlechterverhältnis – und gibt mit seiner Titelfigur der Wut der indischen Frauen, die die sexuelle Diskriminierung und Gewalt nicht länger hinnehmen wollen, ein beeindruckendes Gesicht.

Eine Heldin mit reichlich Wut im Bauch

Zu Beginn folgt die Kamera der Polizistin Soni, die in Zivilkleidung unterwegs ist, durch die nächtlichen Straßen Delhis – wie auch der Rest des Films gedreht in einer langen, ruhigen Einstellung, die einem eindringlich ein Gefühl für den Raum vermittelt: changierend zwischen latenter Bedrohung außen und Sicherheit, aber auch drohender Isolation und Einengung innen. Prompt bekommt Soni es mit einem Fahrradfahrer zu tun, der sie, weil sie des Nachts allein unterwegs ist, für Freiwild hält und sie rüde belästigt – und eines Besseren belehrt wird, als bei Soni die Sicherungen durchbrennen und sie ihm eine kräftige Abreibung verpasst. Solche Wutausbrüche sind bei ihr anscheinend keine Seltenheit – und bringen Soni in Schwierigkeiten.

Ihre Vorgesetzte Kalpana, die sie kurz darauf ins Gebet nimmt und zu professioneller Beherrschtheit mahnt, schätzt zwar die Arbeit der jungen Polizistin, bekommt aber ihrerseits Druck von oben, Soni strenger zu disziplinieren. Als diese bald darauf im Clinch mit einem betrunkenen Autofahrer, der ihr gegenüber ausfällig wird, einmal mehr zu hart durchgreift, wird sie strafversetzt in die Notrufzentrale – während der Delinquent, der sich betrunken ans Steuer gesetzt und eine Beamtin im Dienst belästigt hat, wegen seines Status bei der indischen Armee straffrei davonkommt. Kalpana ihrerseits versucht weiter, sich für die jüngere Kollegin einzusetzen, muss sich jedoch gefallen lassen, dass dieses Engagement als „typisch weibliche“ Emotionalität und Führungsschwäche abgetan wird.

Allgegenwärtige Abwertung von Frauen - nicht nur durch Männer

Dass es weibliche Beamte wie Soni und Kalpana gibt, unter denen die Darstellerinnen vorab recherchieren und sich auf ihre Rollen vorbereiten konnten, zeugt von den Veränderungen traditioneller Geschlechterrollenbilder, die in Indien seit Jahren im Gange sind. Der Alltag der Heldinnen, den der Film geduldig aufrollt, erzählt aber vor allem von der Hartnäckigkeit, mit der sich in den Köpfen die patriarchalische Abwertung von Frauen hält. Womit durchaus nicht nur männliche Köpfe gemeint sind, wie der Film anhand von Szenen aus Sonis und Kalpanas Privatleben zeigt, die Soni in Telefongesprächen mit ihrer Mutter und Kalpana in der Interaktion mit ihrer Schwiegermutter und anderen weiblichen Verwandten zeigen: Auf Anerkennung ihrer beruflichen Leistungen müssen sowohl Soni als auch Kalpana verzichten, sondern sehen sich mit andauernden Vorhaltungen konfrontiert, sich statt um die Arbeit doch lieber um einen Ehemann beziehungsweise um überfälligen Nachwuchs zu bemühen.

Der Film lotet die verschiedenen Fronten, an denen Soni und Kalpana kämpfen, feinfühlig aus und setzt seine dramatischen Eskalationen nur sehr wohldosiert ein, um ansonsten zu zeigen, wie viel die beiden immer wieder kompensieren und herunterschlucken, um sich nicht ins soziale Abseits zu manövrieren – etwa wenn es um Sonis angespanntes Verhältnis zu ihrem Ex-Freund geht, der wieder den Kontakt zu ihr sucht und, wie sich allmählich herauskristallisiert, einer der Gründe für die latente Wut ist, die in ihr brodelt.

2018, im selben Jahr, in dem „Soni“ im Rahmen des Filmfestivals in Venedig Premiere feierte, bescheinigte eine Studie Indien mit 100 angezeigten Vergewaltigungen pro Tag einen traurigen Weltrekord. Mit seinen vielen Nachtszenen und seinem Sich-Einlassen auf die Lebenswelt seiner Heldinnen vermittelt „Soni“  ungemein plastisch, wie sich das gesellschaftliche Klima anfühlt, das hinter dieser Zahl steht. Damit, dass es hier nicht nur um eine weibliche Hauptfigur geht, sondern um zwei, die sich beide für die gleichen Ziele einsetzen und sich den Rücken stärken, setzt der Film gleichwohl einen hoffnungsvollen Akzent – wie als Hommage an die Frauen, die nach der Gruppenvergewaltigung 2012 angefangen haben, sich zu solidarisieren, um gemeinsam gegen die Zustände Sturm zu laufen.

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