Drama | USA 2018 | 425 (acht Episoden) Minuten

Regie: Jean-Marc Vallée

Eine Journalistin mit dunkler Vergangenheit kehrt widerwillig in ihre Kleinstadt-Heimat in Missouri zurück, weil sie in einem Mordfall recherchieren soll. Die Rückkehr konfrontiert sie mit Dingen, die sie eigentlich hinter sich lassen wollte - nicht zuletzt mit ihrer Mutter, die in dem Ort das Sagen hat. Die mit hervorragenden DarstellerInnen besetzte, aus weiblicher Perspektive erzählte Serie entwickelt sich als vielschichtiger Psychothriller-Stoff und verwebt kunstvoll verschiedene Zeitebenen, um davon zu erzählen, wie gesellschaftlche und familiäre Gewaltstrukturen von der Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirken. Dabei begeistert der stilvolle Southern-Gothic-Stoff nicht nur durch seine vielschichtige Geschichte, sondern auch durch eine meisterliche visuelle und akustische Gestaltung. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
SHARP OBJECTS
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Crazy Rose/Fourth Born/Blumhouse Television/Tiny Pyro/eOne
Regie
Jean-Marc Vallée
Buch
Marti Noxon · Ariella Blejer · Dawn Kamoche · Scott Brown · Vince Calandra
Kamera
Ronald Plante · Yves Bélanger
Schnitt
Jean-Marc Vallée · Véronique Barbe · Maxime Lahaie · Émile Vallée · Justin Lachance
Darsteller
Amy Adams (Camille Preaker) · Patricia Clarkson (Adora Crellin) · Chris Messina (Detective Richard Willis) · Eliza Scanlen (Amma Crellin) · Matt Craven (Bill Vickery)
Länge
425 (acht Episoden) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12 (Folge 2,3,6)
ab 16 (Folge 1,4,5,7,8)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Krimi | Literaturverfilmung | Serie

Heimkino

Verleih DVD
Warner
Verleih Blu-ray
Warner
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Diskussion

Ein subtiles, aber bestechendes, finsteres "Southern-Gothic"-Märchen bzw. "Tennessee Williams auf LSD", wie Regisseur Jean-Marc Vallée die Serie charakterisiert: Eine Journalistin (Amy Adams) kehrt in ihre Heimatstadt zurück, um in einem Mordfall zu recherchieren.

Es stimmt etwas nicht, von Anfang an. In etwas unscharfen Bildern zeigt die Kamera in Zeitlupe eine Autofahrt. Wie in Trance führt sie durch eine US-Kleinstadt namens "Wind Gap"; an den Hauswänden sieht man Plakate der Wahlkämpfer Bush und Clinton/Gore aus dem Jahr 1992, Hoffnungen einer anderen Zeit. Silvan Esso singt "Come down playing"; zwei Mädchen fahren auf Rollerblades über den Asphalt einer einsamen Landstraße: "You're sure Mama won't notice we're gone?" Der erste Satz. Ihre Finger berühren sich, Vertrautheit, das Glück äußerster Intimität, in dem Moment erscheint der Titel der ersten Folge: "Vanish."

Die Atmosphäre bleibt märchenhaft, die Mädchen gehen in einen Garten, zu einem Haus, Naturgeräusche mischen sich in das gedämpfte Lachen. Die zwei Schwestern schleichen an der Mutter vorbei, gehen eine Treppe hoch, in ein Zimmer, in dem nun ein Wahlplakat von Obama hängt, 16 Jahre später; die Musik, nun die sphärischen Klänge von "Tumbling Lights", scheint sich zu steigern, eine Nadel sticht in die Hand einer Schlafenden, die junge Frau wacht auf und der somnambule Bewusstseinsstrom entpuppt sich als Traum.

Mädchenmord in einer Südstaaten-Kleinstadt

Die junge Frau heißt Camille (Amy Adams), sie ist die Hauptfigur von "Sharp Objects". Eine Journalistin in Missouris Hauptstadt St.Louis, aber auch, wie wir bald wissen, eine Alkoholikerin, eine aus zunächst unbekannten Gründen Traumatisierte. Einstige schwere Selbstverletzungen durch "Cutting" haben einen gezeichneten Körper zurückgelassen; auch das sehen wir früh. Die ersten Bilder erzählen auch vom Verfall Amerikas, zeigen die heruntergekommenen Südstaaten der Gegenwart und Spuren besserer Zeiten, der 1950er-Jahre, des "Amerikanischen Jahrhunderts", bevor die Handlung zurückführt in die imaginären Schauplätze des "Old South".

Ihr Chef schickt Camille zurück an einen Ort, wo sie nicht hinwill: "Wind Gap", der Schauplatz ihrer Kindheit. Dort ist ein junges Mädchen ermordet worden, ein zweites verschwunden, und Camille soll, gerade weil sie von Außen kommend doch ein Insider ist, eine jener typischen amerikanischen Reportagen schreiben: Persönlich, einfühlend, dicht beschreibend, Pulitzer-Preis-verdächtig.

Soundebenen: Musik als Rückzugsraum

Jede der acht Folgen von "Sharp Objects" wird mit Camilles Fahrt nach Wind Gap eingeleitet. Das erste Bild dieses nahezu immergleichen Vorspanns zeigt einen Plattenspieler. Dazu hört man zwar den gleichen Musiktitel, ein jazziges Stück aus dem Film "Ein Platz an der Sonne" (1951), aber in immer neuen Versionen. Im Original romantisch, klingen manche Remixe verzerrt und abstrakt, andere direkt dystopisch. Diese exquisit ausgewählten Musiktitel und überhaupt eine großartige Soundebene sind ein essentieller Bestandteil von "Sharp Objects". Die Musik hat jenseits vom Vorspann oft eine "natürliche" Grundlage darin, dass Camille fortwährend Radio hört oder ihren iPod. Und wenn sie, selten genug, nicht in der Szene ist, ist es meist ihr Stiefvater Alan, für den Musik ein ähnlicher Rückzugsraum ist wie für Camille. Fortwährend flieht der undurchsichtige Alan vor den Zumutungen der Welt - und derer gibt es viele - in die Sicherheit der Musik, die er auf Schallplatten und einer teuren Stereoanlage spielt, zu der auch der Plattenspieler des Vorspanns gehört. In dem folgen weitere Bilder zwischen Traum und Nostalgie, zwischen denen man Camille beim Autofahren sieht: Oft dreht sich etwas, wie ein Ventilator, ein tanzendes Mädchen im Kleid, oder eben eine Schallplatte. Dazu sieht man einen riesigen Schweinestall, der Camilles Mutter Adora (Patricia Clarkson) gehört und den meisten in Wind Gap Arbeit gibt, dazu Erinnerungsbilder an ein Mädchen auf einer Schaukel, im blauen Kleid, dazu Natur: Grashalme, die Rinde eines Baumstamms, eine Pflanze mit rauen, spitzen Dornen, eine Spinne, eine Fliege (der Teufel möglicherweise?); dazu einen Stacheldraht, von dem Blut tropft, einen blutigen Fleischerhaken. Es sind keine angenehmen Bilder, eher Beunruhigung weckende, die auf Camilles Erfahrungen verweisen, ihre Vorgeschichte, an der sie nicht rühren wollte.

Neurosen

Im Zuge der Ermittlungen begegnet Camille ihrer Vergangenheit, vor allem ihrem Elternhaus, einem prachtvollen Südstaaten-Herrenhaus. Dort lebt ihre Mutter Adora, eine elegante "Southern Belle" vergangener Zeiten, der erwähnte Stiefvater Alan und ihre Schwester Amma (Eliza Scanlen), die noch zur Schule geht. Im Haus wie in der ganzen Stadt führt die hochneurotische Adora - die Angebetete! - ein strenges Regiment, dem auch der Sheriff unterworfen ist. Zugleich haben die stumme Hysterie und das manchmal unerträgliche Benehmen dieser Mutter zwischen eiskalter Hexe und Mater Dolorosa auch Züge einer Komödie. Die Tatsache, dass ihre eigene Tochter über diese "schrecklichen Ereignisse" schreiben, und so möglicherweise die anständige Fassade beschmutzen könnte, beunruhigt die Mutter mehr als die Tatsache, dass ein Mörder frei in der Gegend herumläuft. Gestört ist die Beziehung zu Camille auch durch den unaufgearbeiteten Tod von Marian, Adoras dritter Tochter, die als Teenager starb und im Traum der ersten Szenen auftauchte.

Immer wieder wird die in der Gegenwart spielende Handlung unterbrochen von Flashbacks, Erinnerungsfetzen, die Camille in ihre Jugend zurückreißen. Die Vergangenheit bricht völlig unvermittelt ein in die Verhältnisse. Wir sehen die junge Camille mit der vertrauten und vermissten Schwester Marian, und wie sie die Jungs im Wald beobachtet, bei ihren gewalttätigen Spielen, deren Teil bald auch eine geheimnisvolle Hütte und ein paar Pornobilder sind; wir sehen, dass sie Opfer vermutlich einer Gruppenvergewaltigung wurde. Vieles bleibt im Ungefähren, sehr bewusst, denn es ist klar, dass die Figuren auch der eigenen Erinnerung nicht trauen können.

Ermittlung als Therapie

Gillian Flynn ("Gone Girl"), deren Debütroman hier vom "Big Little Lies"-Regisseur Jean-Marc Vallée aus konsequent weiblicher Perspektive inszeniert wird, erzählt immer wieder Geschichten von dunklen Plätzen, davon, dass der Schatten der Vergangenheit bis in die Gegenwart reicht. Die Ermittlung wird zur Therapie. Nicht die Aufklärung der Mordserie steht hier im Zentrum. Es geht um das Reich der Kindheit, das uns nie verlässt, in das wir uns zurücksehnen und zugleich die Rückkehr fürchten. Denn die Erinnerungen trügen nicht nur, sie bewahren manche Wahrheiten auch in unterdrückter, verdrängter Form auf. Darum ist die Heimkehr schmerzhaft: "Whenever I'm here, I feel like a bad person." sagt Camille.

Es geht auch um das komplexe Feld von Weiblichkeit und Narzissmus. Um familiäre Gewalt, weibliche Wut und fehlgeleitete Gefühle. Adora maskiert Gewalt auch vor sich selbst als Mutterliebe, Camille verinnerlicht die Gewalt, die ihr angetan wurde, ihre Schwester Amma lässt sie an einer coolen Fassade abperlen oder überträgt sie auf andere. Zugleich vereint die Dreizehnjährige in gewissem Sinn ihre beiden Schwestern und deren Eigenschaften: Die tomboyhaft toughe Camille und die süße Prinzessin Marian mit Schleifchen im Haar. Amma spielt noch mit ihrem der elterlichen Vom-Winde-verweht-Villa nachempfundenen Puppenhaus; doch bei aller Seltsamkeit begeistert Amma auch durch ihre erbarmungslose Intelligenz, die sie in die Lage versetzt, Vater und Mutter zu manipulieren, ihre Rollschuh-Freundinnen sowieso, und nebenbei noch Machiavelli zu zitieren: "Es ist sicherer, gefürchtet zu werden als geliebt." Auch ihr Ziel lautet also Sicherheit. Verschwommen oder aus den Augenwinkeln am Rand der Bilder ist diese Gören-Gang ständig irgendwo präsent - wie Raubkatzen beobachten, lauern sie auf ihre nächste Beute. Sie sind Lolitas des Unheimlichen, Erbinnen von David Lynch's Audrey, Donna und Shelly aus "Twin Peaks".

"Wild was different back then..." sagt Camille zu Amma. Im Gegensatz zu ihrer Schwester ist Camille eine Heldin, mit der man sich identifiziert - weil sie unglücklich ist und subversive Formen des Überlebens gefunden hat. Ihre Schmerzen hat sie in ihren Leib eingeritzt und damit abgespalten: Sie lebt in keiner Beziehung, und wenn sie mal einem Liebhaber ihren Körper enthüllt, sagt sie dazu treffend: "You are reading me."

Rasse und Matriarchat

Zwei Ratschläge kann man vor Sichtung der Serie geben: Auf die Musik zu achten, und genau hinzusehen. "Sharp Objects" entfaltet eine Welt der Zeichen, die indirekt, aber sehr detailliert zu verstehen ist. Die Darsteller, allen voran Amy Adams und Patricia Clarkson, bieten in großartigen Auftritten eine hochdifferenzierte Leistung.

Wind Gap ist eine dieser imaginären Serien-Kleinstädte wie "Twin Peaks", in denen es zunehmend aufdringlich nach dem Bösen riecht. Weil sie aber in den Tiefen des Old South liegt, befinden wir uns hier auch im Amerika der Confederacy, deren Geister hier die Menschen heimsuchen. In den schrägen Historienspielen des "Callhoun-Day", wo ein Mädchen gefeiert wird, dass sich auch um den Preis einer Vergewaltigung nicht den "Blauen" des Nordens ergeben wollte, versucht man sie zu bannen.

"We don't say the C-word here" erklärt Camille dem ortsfremden Polizeidetektiv - auch wenn unklar ist, ob sich das nun auf "Confederacy" oder den "Civil War" bezieht, ist das Gemeinte klar: Man spricht es nicht aus, aber Rassismus und Stolz auf die Tradition der Konföderierten der US-Südstaaten sind verinnerlicht und durchdringen diese Gesellschaft in jeder ihrer Fasern. So kommentiert die Serie auch das politische Sujet der "White Supremacy". Schwarze Figuren tauchen hier nur am Rande und im Hintergrund auf: Sie dienen den Weißen als Hausmädchen und Krankenschwester oder helfen als Ratgeber im Hintergrund. Allein Camilles (einzige) schwarze Schulfreundin Becca berichtet beim Wiedersehen von den Qualen ihrer Kindheit unter Weißen.

"Southern Gothic" mit glaubwürdigen Charakteren

Zwar gehört "Sharp Objects" mit alldem zur größeren Familie der "Southern Gothic", mit deren bekannten Zeichen sie ausgiebig spielt. Von "Tennessee Williams auf LSD" hat Regisseur Jean-Marc Vallée gesprochen. Auf ausgetretenen Pfaden bewegt sich die Serie deshalb noch lange nicht. Glücklicherweise wird hier auf schale Psychologie und die Klischees vermeintlich "glaubwürdiger" Charaktere verzichtet zugunsten der Atmosphäre. Film ist Fantasie, also dürfen Filme auch zu ihrer Fantastik und zur Absage an Realismus stehen.

Die Form dieser Psychothriller-Serie ist atmosphärisch dicht, aber erzählerisch assoziativ, offen und mäandernd, verstörend verdreht und traumhaft wie die Flashbacks, die Camille immer wieder heimsuchen. Die Montage ist gelegentlich betont ruckartig gehalten, die Einstellungen der großartigen Kamera (Yves Bélanger) wechseln zwischen Close-ups und Halbtotalen. In seiner verschwommenen, überladenen Bild-Ästhetik könnte dies auch die filmische Version eines Lana-del-Rey-Songs sein. Die Wahl der Musik ist hier aber anders: Leichter, kühler, nicht schwül überladen, trotz der Engelbert-Humperdinck-Schlager, die Alan gelegentlich auflegt. Ansonsten hört man Erlesenes: Die Musik zum Film "Thomas Crown Affair" ("In the windmills of your mind") auf Französisch. Auch andere Titel, "The way it used to be" oder "Motherless Children" etwa, geben Richtungen vor. Unter schlecht vernarbten alten Wunden schwären Geheimnisse. Das Monster dieses Horrorfilms ist die Gesellschaft.

Schuld aber sind die Mütter, und sie tragen das Trauma in die nächste Generation. "Sharp Objects" ist eine Miniserie, die die vom Feminismus verdrängten Seiten des Weiblichen, besonders des Mütterlichen, ins Zentrum rückt. Sie handeln von scheiternder Frauensolidarität, von einem düsteren Matriarchat und nicht zuletzt vom Horror der Gewalt von Müttern gegenüber ihren eigenen Kindern. Der von einer Frau, Marti Noxon, geschriebene und als "Showrunner" produzierte Stoff zeigt, dass es auch sexistisch wäre zu behaupten, Mütter könnten aufgrund irgendwelcher magischer Eigenschaften nicht anders als gütig und liebevoll gegenüber ihren eigenen Kindern verfahren.

"Sharp Objects" ist eine großartig inszenierte, fotografisch bestechend gestaltete, wirkungsvolle Serie, die gerade in ihrer Visualität und in der Fähigkeit, über Bilder assoziativ zu erzählen, auch das Niveau vieler US-Kinofilme übersteigt. Die Serie, deren Erzählung nach acht Folgen abgeschlossen ist, fesselt durch Lebensnähe, durch Ruhe und Konzentration, durch imaginative Kraft und vor allem durch Subtilität in allen Bereichen. "Don't tell Mama", lautet der letzte Satz.

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