Drama | Frankreich 2019 | 137 Minuten

Regie: Bruno Dumont

Im zweiten Teil einer eigenwilligen filmischen Annäherung an Jeanne d’Arc reihen sich Stationen aus dem Krieg mit den Engländern und dem kirchlichen Prozess gegen das als Ketzerin beschuldigte Mädchen aneinander. Im Plot anderen Werken über die französische Nationalheilige nahe, hebt sich der Film durch seine formale Gestaltung ab. Ein ausgefeilter Einsatz von Musical-Elementen, Theatralität und eine antihistorische Herangehensweise zielen darauf, die Möglichkeiten des Kinos auszuloten. Gelungene und eher missglückte Einfälle halten sich dabei die Waage, doch stößt der Film durchaus zu einer profunden Auseinandersetzung mit der Hauptfigur vor. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
JEANNE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
3P Prod./Cinecap 2
Regie
Bruno Dumont
Buch
Bruno Dumont
Kamera
David Chambille
Musik
Christophe
Schnitt
Basile Belkhiri · Bruno Dumont
Darsteller
Lise Leplat Prudhomme (Jeanne d'Arc) · Fabrice Luchini (Karl II.) · Jean-François Causeret (Monseigneur Pierre Cauchon) · Daniel Dienne (Thomas de Courcelles) · Fabien Fenet (Maître Nicolas, der Vogelfänger)
Länge
137 Minuten
Kinostart
02.01.2020
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Historienfilm | Literaturverfilmung
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Im zweiten Teil einer eigenwilligen filmischen Annäherung an Jeanne d’Arc reihen sich Stationen aus dem Krieg mit den Engländern und dem kirchlichen Prozess gegen das als Ketzerin beschuldigte Mädchen aneinander.

Diskussion

Die unbeschwerten Zeiten sind für Jeanne vorbei. Das Hirtenmädchen aus Lothringen blickt jetzt ernst in die Runde, wenn es sich in seiner Rüstung inmitten der Vertreter von Staat, Kirche und Militär bewegt, und es verbirgt seine Gefühle vor ihnen. Introspektion kann sich Jeanne nur noch in raren Momenten des Alleinseins erlauben; dann richtet sie den Blick gen Himmel und teilt mit Gott ihre Ängste angesichts des Krieges der Franzosen mit den Engländern, den Schrecken über die gesehene Gewalt und die Sorge über die eigene Verantwortung.

Die Heiligen aber, die in Jeannes Jugend darauf drangen, sich als Gottes Gesandte in den Zwist des Hundertjährigen Krieges einzumischen, schweigen nun; auf sich allein gestellt, weiß das Mädchen nicht länger, welchen Weg es zu gehen hat. Mit dem Ende der militärischen Siege gegen die Engländer verliert Jeanne auch ihre Unantastbarkeit. Nachdem sie in die Hände ihrer Feinde gefallen ist, kommt der Prozess gegen die angebliche Häretikerin bald im Gang, bei dem ihre Verurteilung zum Tod von vornherein feststeht.

Ein radikaler stilistischer Wechsel

In seinem Film Jeannette (2017) blickte der Filmemacher Bruno Dumont auf die Kindheit und Erweckung der französischen Nationalheiligen; zwei Jahre später folgt nun „Jeanne d’Arc“ über ihre Zeit als Heerführerin, ihren Fall und das Verfahren gegen sie bis zur Hinrichtung am 30. Mai 1431 in Rouen. Das deutet auf einen nahtlosen Anschluss hin, umso mehr als Dumont weiterhin dem Text des 1897 veröffentlichten Mysterienspiels von Charles Péguy folgt. Doch die Umsetzung ist mit einem radikalen Wechsel der formalen Herangehensweise verbunden. Während er sich bei „Jeannette“ noch am ehrgeizigen Projekt versuchte, Péguys Verse mit der Musik eines Rock-Musicals zu kombinieren, sind die handwerklich dürftigen Ergebnisse bei der Fortsetzung offensichtlich nicht unbeachtet geblieben.

In „Jeanne d’Arc“ muss deshalb keiner der Laiendarsteller die Dialoge mit mäßigem Erfolg gesungen vortragen; von den Choreografien, die im ersten Teil ziemlich unbedarft ausfielen, hat sich Dumont komplett verabschiedet. Die Idee des Musicals verfolgt er ansatzweise dennoch weiter, wobei er es aber bei der Wahl des Komponisten ungleich besser getroffen hat als im ersten Versuch mit dem Experimentalmusiker Igorrr. Der Elektro-Rock-Vorreiter Christophe findet einen weitaus originelleren Sound, um Jeannes Schicksal auf den Schlachtfeldern und in der Gefangenschaft zu untermalen.

Über die Qualen der Hölle

Christophe übernimmt auch die Gesangparts, die überwiegend die innere Stimme Jeannes bei ihren Gebeten wiedergeben, mit seinem markanten hohen, leicht heiseren Organ. Auf diese Weise gelingen „Jeanne d’Arc“ tatsächlich musikalisch eindrückliche Akzente. Etwa die Idee, die Schlacht um Paris verfremdet in Gestalt eines Pferdeballetts darzustellen, mit den Rhythmen der Kriegstrommeln als treibendem Musikelement, sowie insbesondere die Enthüllung während des Prozesses, dass unter der Kapuze eines der kirchlichen Ankläger niemand anderes als Christophe steckt, der sodann mit einem elegischen Lied über die Qualen der Hölle sogar Gänsehaut-Gefühle erzeugt.

Doch auch wenn „Jeanne d’Arc“ durch solche formalen Qualitäten geschlossener wirkt als „Jeannette“, bleibt auch der zweite Teil von Dumonts Annäherung an die französische Nationalheilige durchwachsen. Das liegt vor allem daran, dass der Plot nur wenig anderes aufbietet als die zahllosen bisherigen Filme über die „Jungfrau von Orléans“. Dumont hat erklärt, sich weniger für Jeanne d’Arc als vielmehr für den Autor Charles Péguy interessiert zu haben, ein komplexer, zwischen Katholizismus und Atheismus, Sozialismus und nationalistischen Tendenzen schwankender Charakter; im Film spiegelt sich das in Jeannes Präsentation mit wenig Schattierungen zwischen Verschlossenheit und Trotz.

Ihre theologische und zeitkritische Dimension schnürt sich in wenigen Schlagworten zusammen wie einem patzigen „In Frankreich handeln wir selbst, wenn etwas zu tun ist!“ und ihrem Urteil: „Menschen sind, wie sie sind.“

Dass Jeanne erneut von der mittlerweile 12-jährigen Lise Leplat Prudhomme verkörpert wird, obwohl sie am Ende von „Jeannette“ eigentlich schon durch die ältere Jeanne Voisin abgelöst worden war, die für die Fortsetzung aber nicht zur Verfügung stand, passt zum Eindruck des nur halb durchdachten Konzepts.

Die spirituelle Kraft des Kinos

Konsequenter als im Umgang mit der Protagonistin ist Bruno Dumont in seinen filmischen Grundsätzen, insbesondere im Einsatz seines Deformierungs-Prinzips. Wie schon in den Serien Kindkind und Quakquak und die Nichtmenschen sowie in dem Spielfilm Die feine Gesellschaft agieren die Darsteller mit grotesk verzerrter Mimik, marionettenhaften Bewegungen und einer extrem artifiziellen Sprechweise. Vor allem bei Jeannes Widersachern manifestiert sich so die fehlende Natürlichkeit ihres Wesens, das sich nur in hohlen Affekten ausdrücken kann, und prallt effektvoll auf die ruhige Standhaftigkeit des Mädchens. Die Sequenzen des Prozesses positionieren sich auf diese Weise filmhistorisch zwischen Carl Theodor Dreyers Stummfilm Die Passion der Jungfrau von Orléans, von dem Dumont die ausdrucksstarken Gesichter übernimmt, und Robert Bressons Der Prozess der Jeanne d’Arc, dessen Anleitung der Darsteller zum Verzicht auf Emotionalität und Effekte ins krasse Gegenteil umgekehrt wird.

Bei seinem Langzeitziel, das Kino als spirituelle Kraft an die Stelle der Religionen zu setzen, kann Bruno Dumont „Jeanne d’Arc“ immerhin als Teilerfolg verbuchen. Vom Christentum hat er die Maxime, auf die Kraft von Gleichnissen zu setzen, übernommen. Abgesehen von der anachronistischen Musik und der Theatralität wirken auch die Schauplätze jeder konkreten historischen Verankerung entgegen. Die Schlachtszenen und Jeannes Gefangenschaft sind bei Dumont allesamt in der Dünenlandschaft der nordfranzösischen Opalküste gedreht; als schauträchtige Kulisse für den Prozess fungiert nicht das Schloss in Rouen, sondern die Kathedrale von Amiens. Dumonts Glaube an die pure Wirkungsmacht seines Metiers erscheint in dieser antihistorischen Herangehensweise so unverfälscht wie noch nie.

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