Die untergegangene Familie

Drama | Argentinien/Brasilien/Norwegen/Deutschland 2018 | 91 Minuten

Regie: María Alche

Nach dem unerwarteten Tod ihrer Schwester gleitet die Mutter dreier Kinder aus der familiären Enge zunehmend in eine Fantasiewelt ab, in der sich Alltag und Träume fließend durchdringen. In ihre Trauer über die verpassten Chancen im eigenen Leben mischt sich eine Sehnsucht, die in einem jungen Nachbarn konkrete Gestalt gewinnt. Mit ihm wandelt sich das sepiafarbene Kammerspiel zur transitorischen Erkundung von Buenos Aires, in der sich das Versprechen eines anderen Lebens mit großer Leichtigkeit zu erfüllen scheint. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
FAMILIA SUMERGIDA
Produktionsland
Argentinien/Brasilien/Norwegen/Deutschland
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
4 1/2 Fiksjon/Bubbles Project/Pandora Filmprod./Pasto
Regie
María Alche
Buch
María Alche
Kamera
Hélène Louvart
Musik
Luciano Azzigotti
Schnitt
Lívia Serpa
Darsteller
Mercedes Morán (Marcela) · Esteban Bigliardi (Nacho) · Marcelo Subiotto (Jorge) · Ia Arteta (Jimena) · Laila Maltz (Luisa)
Länge
91 Minuten
Kinostart
12.09.2019
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Nach dem unerwarteten Tod ihrer Schwester gleitet die Mutter dreier Kinder aus der familiären Enge zunehmend in eine Fantasiewelt ab, in der sich Alltag und Träume fließend durchdringen. In die Trauer über die verpassten Chancen ihres eigenen Lebens mischt sich zunehmend auch eine Sehnsucht nach Veränderung.

Diskussion

Durch die Schwere des dichten Vorhangs, den die Kamera in langsamen Bewegungen streift, werden die Züge einer sich wiegenden Frau sichtbar, versunken in ihren Tanz mit etwas, das unseren Blicken entzogen bleibt. Auf subtile Weise etabliert die Filmemacherin Maria Alché damit die Grundmotive ihres außergewöhnlichen Dramas um die Mutter von drei Kindern, die aus der familiären Enge langsam in ihre eigene magische Welt abgleitet. Als Schauspielerin kennt man Alché bereits aus Lucretia Martels „La Niña santa – Das heilige Mädchen“ (2004); nun reiht sie sich mit ihrem Regiedebüt in die innovative Szene des neuen argentinischen Films ein.

Faszinierend ist dabei vor allem der schwebende Duktus des filmischen Erzählens, durch den man sich als Zuschauerin nicht ohne weiteres im Film verorten kann – die Grenzen zwischen Handlung und Hintergrundgeschehen, Vorstellungswelt und Realität bleiben transparent und durchlässig. Daraus resultieren immer wieder Szenen, die in ihrem fließenden Übergang zwischen Alltag und Wunderbarem stilistisch an den „magischen Realismus“ anknüpfen.

Trauer und Sehnsucht

Die dunklen Vorhänge, in denen Marcela (Mercedes Morán) sich verliert, gehören zur Wohnung ihrer Schwester Rina, die überraschend gestorben ist. Behutsam bewegt sich Marcela durch die Zimmer der Toten, die mit einer Unmenge an wuchernden Pflanzen, fremdartig aussehenden Gegenständen und verborgenen Winkeln wie ein Tor zu einer anderen Welt wirken.

Für Marcela öffnet sich in der Auseinandersetzung mit den Hinterlassenschaften etwas, das sich nicht einfach in Worte fassen lässt. So überkommen sie unerwartet die Tränen, als sie mit ihrem Sohn die Erdkunde-Hausaufgaben durchgeht; beim Besuch eines Bekannten ihrer Tochter, der ihr eine Zigarette anbietet, muss sie sich plötzlich übergeben. In der Realisierung eines Verlustes, der nicht nur den Tod der Schwester betrifft, sondern auch verpasste Chancen im eigenen Leben, vermischt sich Trauer mit Sehnsucht.

Der Kosmos des Familiären

Marcelas Mann zieht sich zu Beginn des Films auf eine nicht weiter thematisierte Geschäftsreise zurück; das eingespielte Familienleben gerät immer mehr ins Stocken, ganz wie die Waschmaschine, die zu Marcelas Überdruss ihren Geist aufgibt.

Mit großer Leichtigkeit skizziert Alché den Beziehungskosmos der Figuren, die alle auf ihre Weise den geschlossenen Räumen entkommen wollen. Die beiden Töchter fliehen zu ihren Freunden auf Partys, Marcelas jüngerer Sohn schwankt zwischen dem Wunsch, die melancholische Mutter aufzuheitern und dem Drang, vor ihren rätselhaften Stimmungen zu fliehen. Die Häutung einer Schlange, die Marcela fasziniert im Fernsehen beobachtet, weist motivisch den Weg zu einer überraschenden Neuorientierung.

Erotik des Abwesenden

Zunächst erscheinen die beiden verschrobenen alten Damen im Wohnzimmer wie gewöhnliche Gäste, doch bald wird klar, dass hier etwas Gespenstisches Einzug gehalten hat. In Fragmenten sprechen sie über Marcelas Vorfahren und lassen dadurch erahnen, wie viel ungelebtes Leben die Frauen über Generationen hinweg heimgesucht hat.

Zur gleichen Zeit erscheint auch der attraktive Nacho (Esteban Bigliardi) wieder im Apartment, der diesmal nicht die Tochter, sondern Marcela besucht. In der gemeinsamen Zeit mit ihm öffnet sich der filmische Raum, der bis dahin strikt in der sepiafarbenen Enge der Wohnung verblieben war.

Nacho ist beim Aussortieren von Rinas Büchern behilflich, verführt Marcela zu ausgedehnten Spaziergängen durch Buenos Aires und schließlich in ein Hotelzimmer, in dem er gestrandet ist. Ein Jobangebot im Ausland ist im letzten Moment gestrichen worden, wodurch Nacho, der bereits alle Verpflichtungen, die ihn in der Stadt halten würden, gekündigt hat, selbst zu einer geisterhaften Figur geworden ist, die durch ihre transitorische Verfasstheit auf Marcela eine enorme erotische Anziehung ausübt.

Paul Verlaines „saturnische“ Gedichte

Maria Alché lässt die Liebenden zu einem der „saturnischen Gedichte“ des französischen Poeten Paul Verlaine zusammenkommen, dessen Worte die unergründliche Melancholie der beiden in berührender Weise verdichten. Der Titel „Mon rêve familier“ lässt sich hier wunderbar doppeldeutig verstehen, als vertrauter Traum der Sehnsucht, aber auch als untergehende Illusion des Familiären.

Wenn Marcela am Ende des Films erneut von einem Vorhang umspielt wird, liegen, wie ihr spöttisches Lächeln andeutet, Sichtbarkeit und Unsichtbares bereits ganz anders.

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